Pierre Gramegnas vierter Anlauf
Italien steht der Ernennung des Luxemburgers als ESM-Chef im Weg
Brüssel. Pierre Gramegnas italienische Wurzeln haben ihm offenbar bei seinem Streben nach einem EU-Topjob noch nicht viel genutzt. Im Gegenteil: Einer der Hauptgründe, warum Luxemburgs ehemaliger DP-Finanzminister noch immer nicht von den EuroStaaten zum nächsten Chef des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) gewählt wurde, ist nämlich, dass ausgerechnet Rom derzeit konsequent gegen die Ernennung des Luxemburgers ist.
Gramegnas letzter Gegner im Rennen für den Chefsessel in der in Luxemburg ansässigen Institution, der Portugiese João Leão, scheitert allerdings ebenfalls noch daran, genügend Unterstützung für sich zu sammeln. Am Freitag in Prag werden die 19 Finanzminister des Euroraums erneut versuchen, sich auf einen Kandidaten zu einigen – es ist bereits der vierte Anlauf. In Eurogruppen-Kreise dämpft man indes schon die Erwartungen: „Es wäre kein Drama, falls am Freitag keine Entscheidung fällt“, sagt eine hochrangige Euroraum-Quelle. Schließlich habe man noch einen Monat Zeit, bis Klaus Regling, der derzeitige ESMChef, in den Ruhestand geht.
Gleichzeitig wird man in Brüssel langsam ungeduldig. Es sei nicht nachvollziehbar, dass es Monate braucht, um den nächsten Chef einer – alles in allem – zweitrangigen Institution zu finden, so die Gefühlslage. Doch die derzeitige Pattsituation scheint nur schwer überwindbar zu sein.
Komplizierte Ernennungsregeln
Sie hat teilweise mit den Ernennungsregeln für den ESM-Chefposten zu tun. Anders als bei der Wahl für die Präsidentschaft der Eurogruppe verfügt nicht jedes Land über eine gleichberechtigte Stimme. Die Stimmen werden stattdessen je nach Anteil der jeweiligen Länder am ESM-Kapital berechnet. Chef wird dann jener Kandidat, der 80 Prozent dieser Stimmen für sich sammeln kann und nicht jener, der eine einfache Mehrheit der Stimmen erhält. „Dadurch sind die Hürden sehr hoch – es ist demnach kein Wunder, dass es so lange dauert“, sagt ein EU-Diplomat.
Das führt nämlich dazu, dass die drei größten Euro-Staaten, nämlich Deutschland, Frankreich und Italien, ein faktisches Vetorecht über jeden Kandidaten haben – und diese drei Staaten sind sich derzeit nicht über die Person einig, die den ESM künftig leiten soll.
Berlin unterstützt Gramegna und hat bei der Abstimmung im Juli gegen Leão gestimmt – Südeuropäer sind dem fiskalpolitisch konservativen Deutschland oft automatisch suspekt. Dadurch ist Leão blockiert. Rom macht es genau umgekehrt und stimmte gegen Gramegna und für Leão. Die Stimmen Italiens und Portugals ergeben zusammengerechnet mehr als 20 Prozent und versperren dem Luxemburger dadurch den Weg.
Frankreich, wo Präsident Emmanuel Macron und Finanzminister Bruno Le Maire nicht einer Meinung sind, hat einen Mittelweg gesucht: Paris stimmte für Leão und enthielt sich, dem Vernehmen nach, bei Gramegna. Der Eurogruppenchef Paschal Donohoe hatte die Enthaltung bei der vergangenen Abstimmung im Juli eingeführt, um das Auswahlverfahren zu lockern: Enthält sich ein Land, wird sein Anteil am ESMKapital beim Auszählen der Stimmen einfach weggerechnet. Demnach konnte Paris Leão unterstützen (Macrons Wunsch), ohne gleichzeitig Gramegna zu blockieren (Le Maire wird nachgesagt, Gramegnas Kandidatur unterstützen zu wollen).
Ändern Rom oder Berlin ihre Meinung am Freitagmorgen nicht, bleibt die Pattsituation. „Es hat Fortschritte gegeben, doch ist es noch unklar, ob es für eine endgültige Entscheidung reichen wird“, meint eine hochrangige Euro-Quelle.
Sinnkrise
Egal, wie es ausgeht: auf den künftigen ESM-Chef kommt eine Herkulesaufgabe zu. Denn will die Institution weiter bestehen, muss sie sich ganz neu erfinden.
„Bei seiner Schaffung 2012 galt der ESM als große Errungenschaft, die es ermöglicht hat, die Euro-Krise zu lösen“, sagt Grégory Claeys, Finanzexperte bei der Denkfabrik Bruegel. „Ohne ESMKredite hätte die Europäische Zentralbank die europäische Gemeinschaftswährung
wohl nicht retten können.“
Die in Luxemburg ansässige Behörde hat nämlich als Aufgabe, überschuldete Mitgliedstaaten der Eurozone durch Kredite und Bürgschaften zu unterstützen, die an Reformen geknüpft sind. Der ESM ist der wohl sichtbarste Teil des sogenannten „Euro-Rettungsschirms“, der im Laufe der Euround Griechenlandkrisen ins Leben gerufen wurde, um den Euroraum zu stabilisieren.
Das Problem: Nach der EuroKrise hat der ESM sich als „nutzlos erwiesen“, so Claeys. Denn seit 2015 hat der Fonds keine Finanzhilfen mehr vergeben – wofür er eigentlich geschaffen wurde. „Trotz großzügiger Kredite, die der ESM während der Corona-Krise zur Verfügung stellte, wollte kein Land das Geld. Das hat sicherlich mit dem toxischen Image der Institution im Süden Europas zu tun“.
Denn für viele Europäer ist der ESM über die Jahre hinweg zum Synonym für die herzlose EU-Austeritätspolitik rund um die EuroKrise geworden. „Demnach ist es für eine südeuropäische Regierung politisch sehr heikel, dort Geld anzufragen“, so Grégory Claeys.
„Die Frage nach der Daseinsberechtigung des ESM ist demnach legitim“, sagt der Finanzexperte. „2020 hat er nichts gebracht und der Corona-Wiederaufbau-Fonds hat eigentlich das gemacht, wofür der ESM ursprünglich geschaffen wurde.“Und die Erweiterung des Wiederaufbaufonds – vielleicht im Rahmen der Energiekrise – stünde derzeit eher zur Debatte als neue
Finanzierungen durch den ESM, meint Claeys.
„Das ist eine positive Entwicklung“, so der Experte weiter. Denn anders als ESM-Gelder, die von den Mitgliedstaaten vergeben werden, wurde der Corona-WiederaufbauFonds von der EU-Kommission gesteuert. Das mache das Instrument flexibler und politisch kohärenter. Beim ESM kam es oft vor, dass kreditgebende Staaten bei ihrer Vergabe aus innenpolitischen Gründen auf Sparreformen drängten, um ihren Wählern damit zu gefallen. „Inwiefern das für Griechenland und den Euroraum sinnvoll war, ist allerdings fraglich“, analysiert Claeys. Obendrein habe die EUKommission mit dem CoronaFonds gezeigt, dass sie die Verteilung und Übersicht von milliardenschweren Programme meistern kann. Die Schaffung des ESM beruhte zum Teil auch darauf, dass Länder wie Deutschland oder die Niederlande der EU-Kommission das 2012 noch nicht zutrauten.
Es wird demnach die Aufgabe des nächsten Chefs des ESM sein, die Institution neu zu erfinden. Glückt das nicht, könnte sie in zehn Jahren einen stillen Tod sterben, schätzt Claeys ein. „Das wäre eine gute Nachricht, denn es würde bedeuten, dass es keine Krise gab, die den ESM notwendig machte. Und, dass es genügend Vertrauen zwischen den EU-Staaten gegeben hat, um das solidarischere System des Corona-Fonds bei den gegenseitigen Finanzhilfen dauerhaft zu machen“.
Der ESM hat ein toxisches Image im Süden Europas. Finanzexperte Grégory Claeys