Wer die Nachtigall stört
91
„Dann liegt es also an den Geschworenen. Wir müssen die Schwurgerichte abschaffen.“Jem war eisern.
Atticus bemühte sich erfolglos, ein Lächeln zu unterdrücken. „Du bist recht streng mit uns, mein Junge. Mir scheint, es gibt einen besseren Weg: das Gesetz ändern. Und zwar so, dass bei Kapitalverbrechen nur Richter die Strafe festsetzen dürfen.“
„Dann fahr nach Montgomery und ändere das Gesetz.“
„So etwas ist viel, viel schwerer, als du denkst. Ich werde die Änderung des Gesetzes nicht mehr erleben, und wenn du sie erlebst, dann höchstens als alter Mann.“
Diese Aussicht behagte Jem ganz und gar nicht. „Nein, die Schwurgerichte müssen abgeschafft werden. Er war überhaupt nicht schuldig, und sie haben ihn trotzdem verurteilt.“
„Wenn du in diesem Schwurgericht gesessen hättest, zusammen mit elf anderen Jungen wie du, dann wäre Tom jetzt ein freier Mann. Bisher hat noch nichts dein Urteilsvermögen beeinträchtigt. Die zwölf Geschworenen, die über Toms Schicksal entschieden haben, sind im Alltag vernünftige Menschen, aber plötzlich ist etwas zwischen sie und ihre Vernunft getreten. Das Gleiche hast du damals in der Nacht vor dem Gefängnis erlebt. Als jene Männer sich zurückgezogen haben, sind sie nicht gegangen, weil ihre Vernunft gesiegt hatte, sondern weil wir da waren. Es gibt Dinge in unserer Welt, über denen die Menschen den Kopf verlieren. Sie können dann einfach nicht mehr gerecht sein, selbst wenn sie es wollten. Steht in unseren Gerichtshöfen das Wort eines Weißen gegen das eines Schwarzen, dann gewinnt unweigerlich der Weiße. Das ist eine Tatsache, wenn auch eine sehr hässliche.“
„Gerecht ist es trotzdem nicht“, beharrte Jem. Er hämmerte leicht mit der Faust auf sein Knie. „Man kann einen Menschen nicht auf solches Beweismaterial hin verurteilen … Man kann es einfach nicht.“
„Du nicht, Jem, aber sie konnten es und haben es getan. Je älter du wirst, desto mehr solcher Fälle wirst du erleben. Gerade vor Gericht sollte allen Menschen, von welcher Farbe des Regenbogens sie auch sein mögen, das gleiche Recht zuteilwerden. Nur neigen die Leute leider dazu, ihre Vorurteile mit auf die Geschworenenbank zu nehmen. Du wirst später tagtäglich Weiße sehen, die Schwarze betrügen. Aber eines möchte ich dir sagen, und bitte, vergiss es nicht: Wenn ein Weißer – ganz gleich, wie angesehen, wie vornehm, wie reich er ist – einem Schwarzen so etwas antut, dann gehört dieser Weiße zum Pack.“
Atticus hatte ruhig gesprochen, nur sein letztes Wort krachte wie
Donner in unseren Ohren. Ich blickte auf. Seine Miene war leidenschaftlich erregt.
„Nichts widert mich mehr an als ein niederträchtiger Weißer, der sich die Unwissenheit eines Negers zunutze macht. Aber so viel steht fest: Eines kommt zum anderen, und irgendwann müssen wir die Rechnung bezahlen. Hoffentlich nicht mehr zu euren Lebzeiten, Kinder.“Jem kratzte sich nachdenklich am Kopf. Plötzlich riss er die Augen weit auf. „Atticus, warum sitzen nicht Leute wie wir und Miss Maudie auf der Geschworenenbank? Ich habe da noch nie Leute aus Maycomb gesehen, immer nur Farmer …“
Atticus lehnte sich im Schaukelstuhl zurück. Jems Frage schien ihn zu freuen. „Ich habe mich schon gefragt, wann dir das auffallen würde“, sagte er. „Es gibt mehrere Gründe. Einer davon ist, dass Miss Maudie nicht als Geschworene fungieren kann, weil sie eine Frau ist …“
Ich war empört. „Was denn, in Alabama ist das für Frauen verboten?“
„Jawohl. Vermutlich will man unseren zarten Ladys unschöne Fälle wie den von Tom ersparen. Außerdem …“, Atticus grinste, „außerdem bezweifle ich, dass wir je mit einem Prozess zu Ende kämen. Die Ladys würden uns dauernd mit Fragen unterbrechen.“
Jem und ich lachten. Miss Maudie würde sich auf einer Geschworenenbank zweifellos zu behaupten wissen. Mir fiel die alte Mrs. Dubose in ihrem Rollstuhl ein – „Hören Sie mit dem Gehämmer auf, John Taylor. Ich will den Mann da etwas fragen …“Vielleicht war der Beschluss unserer Vorväter gar nicht so unklug.
„Leute wie wir …“, sagte Atticus. „Das ist eben unser Anteil an der Rechnung. Wir bekommen im Allgemeinen die Geschworenen, die wir verdienen. Unsere wackeren Mitbürger haben erstens kein Interesse und zweitens Angst. Und dann …“„Angst? Wovor?“, fragte Jem. „Nun, nehmen wir an, dass Mr. Link Deas zu entscheiden hat, wie viel Schadenersatz – sagen wir – Miss Maudie erhalten soll, weil Miss Rachel sie mit ihrem Wagen überfahren hat. Der Gedanke, eine der beiden Ladys als Kundin zu verlieren, wäre Link bestimmt unangenehm, meinst du nicht auch? Folglich sagt er zu Richter Taylor, dass er nicht als Geschworener fungieren kann, weil er niemanden hat, der ihn im Laden vertritt. Eine solche Entschuldigung muss Richter Taylor gelten lassen – manchmal allerdings nicht ohne Zorn.“
„Aber weswegen sollte denn eine der beiden Ladys nicht mehr bei Mr. Deas kaufen?“, erkundigte ich mich. „Miss Rachel käme bestimmt nicht mehr“, bemerkte Jem. „Miss Maudie würde es Mr. Deas wohl nicht nachtragen. Aber sag mal, Atticus, die Abstimmung der Geschworenen ist doch geheim …“
Unser Vater lachte. „Du musst noch viel lernen, mein Junge. Die Abstimmung der Geschworenen soll geheim bleiben. Und noch etwas. Als Geschworener ist ein Mann gezwungen, sich zu entscheiden, sich über etwas zu äußern. Männer tun das nicht gern. Mitunter ist es unangenehm.“
„Toms Geschworene haben sich jedenfalls in aller Eile entschieden“, knurrte Jem.
Atticus’ Finger wanderten zur Uhrtasche. „Nein, das stimmt nicht“, sagte er mehr zu sich selbst als zu uns. „Sie haben mehrere Stunden gebraucht, und gerade deshalb habe ich gedacht, es könnte vielleicht der Schatten eines Anfangs sein. Das Ergebnis – ja, es war unvermeidlich, aber im Allgemeinen benötigen sie dazu nur ein paar Minuten. Diesmal …“
(Fortsetzung folgt)