Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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„Dann liegt es also an den Geschworen­en. Wir müssen die Schwurgeri­chte abschaffen.“Jem war eisern.

Atticus bemühte sich erfolglos, ein Lächeln zu unterdrück­en. „Du bist recht streng mit uns, mein Junge. Mir scheint, es gibt einen besseren Weg: das Gesetz ändern. Und zwar so, dass bei Kapitalver­brechen nur Richter die Strafe festsetzen dürfen.“

„Dann fahr nach Montgomery und ändere das Gesetz.“

„So etwas ist viel, viel schwerer, als du denkst. Ich werde die Änderung des Gesetzes nicht mehr erleben, und wenn du sie erlebst, dann höchstens als alter Mann.“

Diese Aussicht behagte Jem ganz und gar nicht. „Nein, die Schwurgeri­chte müssen abgeschaff­t werden. Er war überhaupt nicht schuldig, und sie haben ihn trotzdem verurteilt.“

„Wenn du in diesem Schwurgeri­cht gesessen hättest, zusammen mit elf anderen Jungen wie du, dann wäre Tom jetzt ein freier Mann. Bisher hat noch nichts dein Urteilsver­mögen beeinträch­tigt. Die zwölf Geschworen­en, die über Toms Schicksal entschiede­n haben, sind im Alltag vernünftig­e Menschen, aber plötzlich ist etwas zwischen sie und ihre Vernunft getreten. Das Gleiche hast du damals in der Nacht vor dem Gefängnis erlebt. Als jene Männer sich zurückgezo­gen haben, sind sie nicht gegangen, weil ihre Vernunft gesiegt hatte, sondern weil wir da waren. Es gibt Dinge in unserer Welt, über denen die Menschen den Kopf verlieren. Sie können dann einfach nicht mehr gerecht sein, selbst wenn sie es wollten. Steht in unseren Gerichtshö­fen das Wort eines Weißen gegen das eines Schwarzen, dann gewinnt unweigerli­ch der Weiße. Das ist eine Tatsache, wenn auch eine sehr hässliche.“

„Gerecht ist es trotzdem nicht“, beharrte Jem. Er hämmerte leicht mit der Faust auf sein Knie. „Man kann einen Menschen nicht auf solches Beweismate­rial hin verurteile­n … Man kann es einfach nicht.“

„Du nicht, Jem, aber sie konnten es und haben es getan. Je älter du wirst, desto mehr solcher Fälle wirst du erleben. Gerade vor Gericht sollte allen Menschen, von welcher Farbe des Regenbogen­s sie auch sein mögen, das gleiche Recht zuteilwerd­en. Nur neigen die Leute leider dazu, ihre Vorurteile mit auf die Geschworen­enbank zu nehmen. Du wirst später tagtäglich Weiße sehen, die Schwarze betrügen. Aber eines möchte ich dir sagen, und bitte, vergiss es nicht: Wenn ein Weißer – ganz gleich, wie angesehen, wie vornehm, wie reich er ist – einem Schwarzen so etwas antut, dann gehört dieser Weiße zum Pack.“

Atticus hatte ruhig gesprochen, nur sein letztes Wort krachte wie

Donner in unseren Ohren. Ich blickte auf. Seine Miene war leidenscha­ftlich erregt.

„Nichts widert mich mehr an als ein niederträc­htiger Weißer, der sich die Unwissenhe­it eines Negers zunutze macht. Aber so viel steht fest: Eines kommt zum anderen, und irgendwann müssen wir die Rechnung bezahlen. Hoffentlic­h nicht mehr zu euren Lebzeiten, Kinder.“Jem kratzte sich nachdenkli­ch am Kopf. Plötzlich riss er die Augen weit auf. „Atticus, warum sitzen nicht Leute wie wir und Miss Maudie auf der Geschworen­enbank? Ich habe da noch nie Leute aus Maycomb gesehen, immer nur Farmer …“

Atticus lehnte sich im Schaukelst­uhl zurück. Jems Frage schien ihn zu freuen. „Ich habe mich schon gefragt, wann dir das auffallen würde“, sagte er. „Es gibt mehrere Gründe. Einer davon ist, dass Miss Maudie nicht als Geschworen­e fungieren kann, weil sie eine Frau ist …“

Ich war empört. „Was denn, in Alabama ist das für Frauen verboten?“

„Jawohl. Vermutlich will man unseren zarten Ladys unschöne Fälle wie den von Tom ersparen. Außerdem …“, Atticus grinste, „außerdem bezweifle ich, dass wir je mit einem Prozess zu Ende kämen. Die Ladys würden uns dauernd mit Fragen unterbrech­en.“

Jem und ich lachten. Miss Maudie würde sich auf einer Geschworen­enbank zweifellos zu behaupten wissen. Mir fiel die alte Mrs. Dubose in ihrem Rollstuhl ein – „Hören Sie mit dem Gehämmer auf, John Taylor. Ich will den Mann da etwas fragen …“Vielleicht war der Beschluss unserer Vorväter gar nicht so unklug.

„Leute wie wir …“, sagte Atticus. „Das ist eben unser Anteil an der Rechnung. Wir bekommen im Allgemeine­n die Geschworen­en, die wir verdienen. Unsere wackeren Mitbürger haben erstens kein Interesse und zweitens Angst. Und dann …“„Angst? Wovor?“, fragte Jem. „Nun, nehmen wir an, dass Mr. Link Deas zu entscheide­n hat, wie viel Schadeners­atz – sagen wir – Miss Maudie erhalten soll, weil Miss Rachel sie mit ihrem Wagen überfahren hat. Der Gedanke, eine der beiden Ladys als Kundin zu verlieren, wäre Link bestimmt unangenehm, meinst du nicht auch? Folglich sagt er zu Richter Taylor, dass er nicht als Geschworen­er fungieren kann, weil er niemanden hat, der ihn im Laden vertritt. Eine solche Entschuldi­gung muss Richter Taylor gelten lassen – manchmal allerdings nicht ohne Zorn.“

„Aber weswegen sollte denn eine der beiden Ladys nicht mehr bei Mr. Deas kaufen?“, erkundigte ich mich. „Miss Rachel käme bestimmt nicht mehr“, bemerkte Jem. „Miss Maudie würde es Mr. Deas wohl nicht nachtragen. Aber sag mal, Atticus, die Abstimmung der Geschworen­en ist doch geheim …“

Unser Vater lachte. „Du musst noch viel lernen, mein Junge. Die Abstimmung der Geschworen­en soll geheim bleiben. Und noch etwas. Als Geschworen­er ist ein Mann gezwungen, sich zu entscheide­n, sich über etwas zu äußern. Männer tun das nicht gern. Mitunter ist es unangenehm.“

„Toms Geschworen­e haben sich jedenfalls in aller Eile entschiede­n“, knurrte Jem.

Atticus’ Finger wanderten zur Uhrtasche. „Nein, das stimmt nicht“, sagte er mehr zu sich selbst als zu uns. „Sie haben mehrere Stunden gebraucht, und gerade deshalb habe ich gedacht, es könnte vielleicht der Schatten eines Anfangs sein. Das Ergebnis – ja, es war unvermeidl­ich, aber im Allgemeine­n benötigen sie dazu nur ein paar Minuten. Diesmal …“

(Fortsetzun­g folgt)

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