Aus den Fängen Putins
In Tiflis leben ukrainische Flüchtlinge und oppositionelle Exilanten aus Russland
Auf den Straßen von Tiflis spricht man in diesen Wochen und Monaten vermehrt Russisch. Nicht nur, weil viele russische Touristen in der ehemaligen Sowjetrepublik, die für herrliche Landschaften und gutes Essen bekannt ist, Ferien machen.
Seit dem Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine sind auch vermehrt Oppositionelle aus Russland und ukrainische Flüchtlinge aus den besetzten Gebieten wie Cherson und Mariupol in der georgischen Hauptstadt anzutreffen. Ende Juni dieses Jahres waren gemäß georgischen Behördenangaben über 22 000 Flüchtlinge aus der Ukraine in Georgien registriert, während die Zahl der in Georgien verbliebenen Russen aufgrund der Visafreiheit schlecht zu bestimmen ist.
Und während die russischen Exilanten geduldet sind, liegen die Sympathien der urbanen und Europa zugewandten Georgierinnen und Georgier in Tiflis klar bei der Ukraine: Viele Geschäfte bekunden ihre Solidarität mit Klebern und Flaggen in Blau-Gelb, ukrainische Fahnen hängen von den Balkonen. Slogans wie „Fuck Putin“kann man in Tiflis ebenso lesen wie auch Banner „Ukraine is Georgia is Ukraine“– quadrametergroß an der Ecke der TamarTschovelize-/Mikheil-ZandulekiStraße.
Aus den besetzten Gebieten geht es nur ostwärts
Natalia Lukashova (30) stammt aus Nova Khakhova im Oblast Cherson. Wichtig war ihr, ihre Tochter in Sicherheit zu bringen. Und: „Es gab keine Arbeit mehr, das Geld ging aus, die Geschäfte schlossen“, schildert sie. Wie die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer, die nach Georgien geflüchtet sind, stammt sie aus dem russisch besetzten Teil der Ukraine. Weil die Fluchtwege aus den von den Okkupanten gehaltenen Gebieten nur nach Osten führen und nicht über die Front in die ukrainisch kontrollierten Regionen westwärts, bleibt den Menschen keine andere Wahl – wenn sie die Region verlassen wollen – über Russland auszureisen.
Natalia Lukashovas Mutter ist immer noch im Chersoner Gebiet, ebenso der Stiefvater. Auf ihrer Flucht reiste Lukashova zunächst zu ihrem leiblichen Vater auf die seit 2014 russisch besetzte Krim, dort hielt sie es aber nicht lange aus. „Ihn hatte ich zwölf Jahre nicht mehr gesehen. Er glaubte mir, nicht, was ich erzählte. Er denkt, wir würden befreit“, so die Ukrainerin. Schließlich entschied sie, weiter über den Nordkaukasus nach Georgien zu fliehen. Am 11. Mai folgte ihr ebenfalls 30-jähriger Mann Kyrylo über die Krimbrücke bei Kertsch nach Georgien. „Sie holen dort die Männer aus den Wohnungen“, einer seiner Freunde sei gefoltert worden, sagt Kyrylo Lukashov zu den Zuständen in Cherson. Zwangsrekrutiert wurde er von den Russen oder den Separatistenmilizen nicht, wie er auf Nachfrage bestätigt.
Vom Balkon aus aber könne man in der Region Cherson beobachten, wie Menschen auf offener Straße verschleppt würden. Kyrylo Lukashov sagt, dass rund 85 Prozent der Bevölkerung aus der Region Cherson geflüchtet seien. Und viele würden auch in den gefürchteten Filtrationscamps der Russen landen, wo die Besatzer ihre Opfer nach verdächtigen Meldungen auf Smartphones, sozialen Medien oder nach nationalistischen Tätowierungen überprüfen würden. Die humanitäre Lage im Gebiet Cherson sei desolat. Überall gebe es lange Warteschlangen vor Lebensmittelläden oder Bankomaten.
Die Ukrainerin Olga Kokoskova (32) wiederum ist ursprünglich Sozialpädagogin. Sie stammt aus dem von der russischen Artillerie zerbombten Mariupol; jetzt betreut sie in einer oberen Etage eines Kindergartens in Tiflis für die NGO „Save the Children“mit weiteren Betreuungspersonen rund 50 Kinder von ukrainischen Flüchtlingen. Auch Kokoskovas Flucht führte aus dem russisch besetzten Gebiet der Ukraine über 1.000 Kilometer via Taganrog-Rostov-Krasnodar-Vladikavkaz-Kabardino/Balkarien und Nordossetien nach Georgien, dauerte lange sieben Tage. „Es war eine spontane Entscheidung.“Am schwersten seien in Mariupol die
Beispiel Donbass: Die Kämpfe hinterlassen eine Spur der Verwüstung, mit der Folge, dass viele Bewohner keinen anderen Ausweg sehen, als die Flucht.
Luftangriffe gewesen, an einem Tag über 100, schildert sie. „Ich bin so glücklich, raus gekommen zu sein.“Auch sie sagt, dass alle in Filtrationscamps der Russen müssten. Viele Familien mit unterschiedlichen politischen Ansichten seien inzwischen zerbrochen. „Vor dem Krieg hätte man noch einen Kompromiss finden können. Mariupol erlebte nach 2015 (nach den ersten heftigen Kämpfen, Anm. der Red.) eine Art Rennaissance, einen Boom.“
Nun, nachdem Russland Mariupol fast dem Erdboden gleich gemacht hat, sei es für ihre Familie unvorstellbar, zu Russland eine gute Einstellung zu haben. „Wir sprechen Russisch, aber wir sind klar pro-ukrainische Patrioten.“Ihr Mann hat in Rustavi, 25 Kilometer von Tiflis entfernt, Arbeit in einem Metallwerk gefunden. Die Familie lebt nun auch in dieser Stadt. Zu 100 Prozent werde man in die Ukraine zurückkehren, irgendwann, so Olga Kokovska. Aber nicht nach Mariupol, selbst wenn es irgendwann wieder unter ukrainischer Kontrolle sein sollte. Zu viele Menschen seien dort gestorben, 30 000, vielleicht 35 000. „Wir haben zu viel erlebt“, sagt Olga Kokovska.
Doppelt diskriminiert: Journalist und homosexuell
Seine Mutter habe ihm, je näher der Krieg Russlands gegen die Ukraine zeitlich gekommen sei, immer wieder gesagt, es werde Zeit, das Land zu verlassen. Dann war es für Anton Danilov so weit. Der 29-jährige Journalist aus Moskau, einst aufgewachsen in der Exklave Kaliningrad, verließ sein Heimatland in Richtung Georgien. Zu eng hatte sich die Schlinge zuletzt für ihn zugezogen – als Medienschaffender für das Magazin „Wonderzine“, als einer, der über Minderheiten und für die Regierung unangenehme Themen schrieb; beispielsweise über Homosexuelle in der russischen Armee und für ihn persönlich als Homosexueller. „Wir haben die Dinge beim Namen genannt“, sagt Danilov. Das sei den Behörden ein Dorn im Auge gewesen.
„Gaypropaganda“habe man diese Art von Journalismus genannt. Roskomnadzor, die staatliche Aufsichtsbehörde für Informationstechnologie
Der Russe Vanya Chevchuk ist als Tourist nach Georgien gereist – nach dem Kriegsausbruch entschied er, dortzubleiben.
Anton Danilov ist ein oppositioneller Journalist in Russland. Nicht nur deswegen, sondern auch weil er homosexuell ist, sieht er in Russland keine Zukunft für sich.
Wir haben die Dinge beim Namen genannt. Anton Danilov
und Massenkommunikation, habe zum Beispiel „Wonderzine“aufgefordert, sieben Artikel vom Netz zu nehmen, wobei zwei Texte von ihm stammten, einer über einen Menschen, der gerade seine geschlechtliche Identität veränderte. 24 Stunden habe man der Redaktion für die Löschung Zeit gegeben. „Schließlich hat man uns trotzdem blockiert“, erklärt Anton Danilov. „Wir wollten einen Anwalt nehmen, aber unsere Chancen, zu gewinnen, sind null.“Jetzt, da er in Tiflis lebt – zusammen mit seinem Freund, der
Die imperialen Ambitionen Russlands und Putins kommen nicht aus dem Nichts. Vanya Shevchuk
mit ihm geflüchtet ist, könne er immerhin wieder über alle Themen schreiben. Würde er in Russland über das Massaker in Butscha schreiben, drohten ihm zehn Jahre Haft, so Danilov.
Auch die homophobe Stimmung in der Gesellschaft bekam der junge Mann zu spüren. In der Öffentlichkeit sei er in Moskau geschlagen worden. In Russland werde man dazu gedrängt, seine Identität zu verstecken. Seit 2013 ist es in Russland verboten, sich in Anwesenheit Minderjähriger oder in den Medien positiv über Homosexualität zu äußern. Im Juni gab es in der Duma, dem russischen Parlament, einen Vorstoß, die Propagierung von Homosexualität auch gegenüber Erwachsenen unter Strafe zu stellen.
Doch auch in Tiflis ist Anton Danilov nicht vor Anfeindungen wegen seiner Homosexualität sicher. „Ich habe ein T-Shirt mit Regenbogenfarben, das ich gerne trage. Ich muss es verstecken“, erzählt er. Zwar sind in Georgien homosexuelle Handlungen seit 2000 erlaubt, aber Teile der Gesellschaft scheinen noch nicht bereit, dieses Menschenrecht zu akzeptieren.
Mehr als einmal kam es in Tiflis zu Aktionen von Ultra-Orthodoxen gegenüber der Gay Parade, 2021 wurden Aktivisten und Journalisten verletzt. Die Pride in diesem Jahr wurde gar nicht bewilligt. Anton Danilov will jedenfalls aus Georgien nach Deutschland weiterziehen. Er hat in der deutschen Botschaft in Tiflis humanitäres Asyl beantragt. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock habe schließlich angekündigt, dass oppositionelle russische Journalisten leichter nach Deutschland einreisen könnten, so Danilov. „Ich kann meine Chancen aber nicht abschätzen“, erklärt er.
Als Tourist gekommen und geblieben
Der Russe Vanya Shevchuk (21) ist im Februar als Tourist für einige Wochen nach Georgien gereist – und hat nach dem Kriegsausbruch entschieden, zu bleiben. Der Berater für Online-Bildungstechnologien aus Chanty-Mansijsk, einer Stadt rund 2 600 Kilometer östlich von Moskau, hat eine im Zusammenhang mit dem russisch-ukrainischen Krieg mehr als bemerkenswerte Familiengeschichte: Sein Urgroßvater wurde in den 30er-Jahren aus der Ukraine nach Sibirien deportiert.
Dass er nun in Tiflis hängen geblieben ist, hat mehrere Gründe. Shevchuk befürchtete auch, dass er in Russland in die Armee eingezogen würde, falls es zu einer Generalmobilmachung kommt. Auch seine politischen Ansichten decken sich nicht mit der Putin-Doktrin. Denn Vanya Shevchuk ist ein Sympathisant der oppositionellen Libertären Partei Russlands von Mikhail Svetov. „Viele meiner Freunde wurden bei Demonstrationen festgenommen. Auch ich würde nicht sicher sein“, erzählt er. Dieses schlechte Gefühl der Unsicherheit
manifestierte sich bei ihm spätestens, als Alexei Navalny im vorigen Jahr nach seiner Rückkehr aus Deutschland festgesetzt wurde. Jetzt könne man als Oppositioneller in Russland nur noch auf Kanälen des Messengerdienstes Telegram untereinander kommunizieren. In den Gesprächen mit seiner Mutter in Russland, die an einer öffentlichen Schule unterrichtet, versucht er den Krieg in der Ukraine nicht zu stark zu thematisieren.
Vanya Shevchuk selber hält mit seiner Meinung zum Krieg Russlands in der Ukraine aber nicht zurück: „Die imperialen Ambitionen Russlands und Putins kommen nicht aus dem Nichts.“Für ihn sei es ein hartes Gefühl dies mitanzusehen. Und auch die innenpolitische Entwicklung Russlands hin zu einem totalitären System mit der Gleichschaltung der Medien und der Unterdrückung und Verfolgung von Oppositionellen ist für Shevchuk keine Überraschung. „Seit ich geboren wurde, ist die Opposition immer schwächer geworden.“
Vanya Shevchuk wird vorerst in Georgien bleiben, er kann sich hier 360 Tage visumfrei aufhalten und seine Arbeit online erledigen. Seinen Lohn lässt er aber seit Beginn der Sanktionen gegen Russland in Kryptowährung auszahlen. Er lebt derzeit in einem Hostel. Dort hat er auch schon Russen getroffen. „Aber niemanden, der für Putin ist“, sagt Vanya Shevchuk.
Ich bin so glücklich, raus gekommen zu sein. Olga Kokoskova