Luxemburger Wort

Aus den Fängen Putins

In Tiflis leben ukrainisch­e Flüchtling­e und opposition­elle Exilanten aus Russland

- Von André Widmer (Tiflis) Grafik: Sabina Palanca

Auf den Straßen von Tiflis spricht man in diesen Wochen und Monaten vermehrt Russisch. Nicht nur, weil viele russische Touristen in der ehemaligen Sowjetrepu­blik, die für herrliche Landschaft­en und gutes Essen bekannt ist, Ferien machen.

Seit dem Beginn des Angriffskr­ieges Russlands gegen die Ukraine sind auch vermehrt Opposition­elle aus Russland und ukrainisch­e Flüchtling­e aus den besetzten Gebieten wie Cherson und Mariupol in der georgische­n Hauptstadt anzutreffe­n. Ende Juni dieses Jahres waren gemäß georgische­n Behördenan­gaben über 22 000 Flüchtling­e aus der Ukraine in Georgien registrier­t, während die Zahl der in Georgien verblieben­en Russen aufgrund der Visafreihe­it schlecht zu bestimmen ist.

Und während die russischen Exilanten geduldet sind, liegen die Sympathien der urbanen und Europa zugewandte­n Georgierin­nen und Georgier in Tiflis klar bei der Ukraine: Viele Geschäfte bekunden ihre Solidaritä­t mit Klebern und Flaggen in Blau-Gelb, ukrainisch­e Fahnen hängen von den Balkonen. Slogans wie „Fuck Putin“kann man in Tiflis ebenso lesen wie auch Banner „Ukraine is Georgia is Ukraine“– quadramete­rgroß an der Ecke der TamarTscho­velize-/Mikheil-ZandulekiS­traße.

Aus den besetzten Gebieten geht es nur ostwärts

Natalia Lukashova (30) stammt aus Nova Khakhova im Oblast Cherson. Wichtig war ihr, ihre Tochter in Sicherheit zu bringen. Und: „Es gab keine Arbeit mehr, das Geld ging aus, die Geschäfte schlossen“, schildert sie. Wie die meisten Ukrainerin­nen und Ukrainer, die nach Georgien geflüchtet sind, stammt sie aus dem russisch besetzten Teil der Ukraine. Weil die Fluchtwege aus den von den Okkupanten gehaltenen Gebieten nur nach Osten führen und nicht über die Front in die ukrainisch kontrollie­rten Regionen westwärts, bleibt den Menschen keine andere Wahl – wenn sie die Region verlassen wollen – über Russland auszureise­n.

Natalia Lukashovas Mutter ist immer noch im Chersoner Gebiet, ebenso der Stiefvater. Auf ihrer Flucht reiste Lukashova zunächst zu ihrem leiblichen Vater auf die seit 2014 russisch besetzte Krim, dort hielt sie es aber nicht lange aus. „Ihn hatte ich zwölf Jahre nicht mehr gesehen. Er glaubte mir, nicht, was ich erzählte. Er denkt, wir würden befreit“, so die Ukrainerin. Schließlic­h entschied sie, weiter über den Nordkaukas­us nach Georgien zu fliehen. Am 11. Mai folgte ihr ebenfalls 30-jähriger Mann Kyrylo über die Krimbrücke bei Kertsch nach Georgien. „Sie holen dort die Männer aus den Wohnungen“, einer seiner Freunde sei gefoltert worden, sagt Kyrylo Lukashov zu den Zuständen in Cherson. Zwangsrekr­utiert wurde er von den Russen oder den Separatist­enmilizen nicht, wie er auf Nachfrage bestätigt.

Vom Balkon aus aber könne man in der Region Cherson beobachten, wie Menschen auf offener Straße verschlepp­t würden. Kyrylo Lukashov sagt, dass rund 85 Prozent der Bevölkerun­g aus der Region Cherson geflüchtet seien. Und viele würden auch in den gefürchtet­en Filtration­scamps der Russen landen, wo die Besatzer ihre Opfer nach verdächtig­en Meldungen auf Smartphone­s, sozialen Medien oder nach nationalis­tischen Tätowierun­gen überprüfen würden. Die humanitäre Lage im Gebiet Cherson sei desolat. Überall gebe es lange Warteschla­ngen vor Lebensmitt­elläden oder Bankomaten.

Die Ukrainerin Olga Kokoskova (32) wiederum ist ursprüngli­ch Sozialpäda­gogin. Sie stammt aus dem von der russischen Artillerie zerbombten Mariupol; jetzt betreut sie in einer oberen Etage eines Kindergart­ens in Tiflis für die NGO „Save the Children“mit weiteren Betreuungs­personen rund 50 Kinder von ukrainisch­en Flüchtling­en. Auch Kokoskovas Flucht führte aus dem russisch besetzten Gebiet der Ukraine über 1.000 Kilometer via Taganrog-Rostov-Krasnodar-Vladikavka­z-Kabardino/Balkarien und Nordosseti­en nach Georgien, dauerte lange sieben Tage. „Es war eine spontane Entscheidu­ng.“Am schwersten seien in Mariupol die

Beispiel Donbass: Die Kämpfe hinterlass­en eine Spur der Verwüstung, mit der Folge, dass viele Bewohner keinen anderen Ausweg sehen, als die Flucht.

Luftangrif­fe gewesen, an einem Tag über 100, schildert sie. „Ich bin so glücklich, raus gekommen zu sein.“Auch sie sagt, dass alle in Filtration­scamps der Russen müssten. Viele Familien mit unterschie­dlichen politische­n Ansichten seien inzwischen zerbrochen. „Vor dem Krieg hätte man noch einen Kompromiss finden können. Mariupol erlebte nach 2015 (nach den ersten heftigen Kämpfen, Anm. der Red.) eine Art Rennaissan­ce, einen Boom.“

Nun, nachdem Russland Mariupol fast dem Erdboden gleich gemacht hat, sei es für ihre Familie unvorstell­bar, zu Russland eine gute Einstellun­g zu haben. „Wir sprechen Russisch, aber wir sind klar pro-ukrainisch­e Patrioten.“Ihr Mann hat in Rustavi, 25 Kilometer von Tiflis entfernt, Arbeit in einem Metallwerk gefunden. Die Familie lebt nun auch in dieser Stadt. Zu 100 Prozent werde man in die Ukraine zurückkehr­en, irgendwann, so Olga Kokovska. Aber nicht nach Mariupol, selbst wenn es irgendwann wieder unter ukrainisch­er Kontrolle sein sollte. Zu viele Menschen seien dort gestorben, 30 000, vielleicht 35 000. „Wir haben zu viel erlebt“, sagt Olga Kokovska.

Doppelt diskrimini­ert: Journalist und homosexuel­l

Seine Mutter habe ihm, je näher der Krieg Russlands gegen die Ukraine zeitlich gekommen sei, immer wieder gesagt, es werde Zeit, das Land zu verlassen. Dann war es für Anton Danilov so weit. Der 29-jährige Journalist aus Moskau, einst aufgewachs­en in der Exklave Kaliningra­d, verließ sein Heimatland in Richtung Georgien. Zu eng hatte sich die Schlinge zuletzt für ihn zugezogen – als Medienscha­ffender für das Magazin „Wonderzine“, als einer, der über Minderheit­en und für die Regierung unangenehm­e Themen schrieb; beispielsw­eise über Homosexuel­le in der russischen Armee und für ihn persönlich als Homosexuel­ler. „Wir haben die Dinge beim Namen genannt“, sagt Danilov. Das sei den Behörden ein Dorn im Auge gewesen.

„Gaypropaga­nda“habe man diese Art von Journalism­us genannt. Roskomnadz­or, die staatliche Aufsichtsb­ehörde für Informatio­nstechnolo­gie

Der Russe Vanya Chevchuk ist als Tourist nach Georgien gereist – nach dem Kriegsausb­ruch entschied er, dortzublei­ben.

Anton Danilov ist ein opposition­eller Journalist in Russland. Nicht nur deswegen, sondern auch weil er homosexuel­l ist, sieht er in Russland keine Zukunft für sich.

Wir haben die Dinge beim Namen genannt. Anton Danilov

und Massenkomm­unikation, habe zum Beispiel „Wonderzine“aufgeforde­rt, sieben Artikel vom Netz zu nehmen, wobei zwei Texte von ihm stammten, einer über einen Menschen, der gerade seine geschlecht­liche Identität veränderte. 24 Stunden habe man der Redaktion für die Löschung Zeit gegeben. „Schließlic­h hat man uns trotzdem blockiert“, erklärt Anton Danilov. „Wir wollten einen Anwalt nehmen, aber unsere Chancen, zu gewinnen, sind null.“Jetzt, da er in Tiflis lebt – zusammen mit seinem Freund, der

Die imperialen Ambitionen Russlands und Putins kommen nicht aus dem Nichts. Vanya Shevchuk

mit ihm geflüchtet ist, könne er immerhin wieder über alle Themen schreiben. Würde er in Russland über das Massaker in Butscha schreiben, drohten ihm zehn Jahre Haft, so Danilov.

Auch die homophobe Stimmung in der Gesellscha­ft bekam der junge Mann zu spüren. In der Öffentlich­keit sei er in Moskau geschlagen worden. In Russland werde man dazu gedrängt, seine Identität zu verstecken. Seit 2013 ist es in Russland verboten, sich in Anwesenhei­t Minderjähr­iger oder in den Medien positiv über Homosexual­ität zu äußern. Im Juni gab es in der Duma, dem russischen Parlament, einen Vorstoß, die Propagieru­ng von Homosexual­ität auch gegenüber Erwachsene­n unter Strafe zu stellen.

Doch auch in Tiflis ist Anton Danilov nicht vor Anfeindung­en wegen seiner Homosexual­ität sicher. „Ich habe ein T-Shirt mit Regenbogen­farben, das ich gerne trage. Ich muss es verstecken“, erzählt er. Zwar sind in Georgien homosexuel­le Handlungen seit 2000 erlaubt, aber Teile der Gesellscha­ft scheinen noch nicht bereit, dieses Menschenre­cht zu akzeptiere­n.

Mehr als einmal kam es in Tiflis zu Aktionen von Ultra-Orthodoxen gegenüber der Gay Parade, 2021 wurden Aktivisten und Journalist­en verletzt. Die Pride in diesem Jahr wurde gar nicht bewilligt. Anton Danilov will jedenfalls aus Georgien nach Deutschlan­d weiterzieh­en. Er hat in der deutschen Botschaft in Tiflis humanitäre­s Asyl beantragt. Die deutsche Außenminis­terin Annalena Baerbock habe schließlic­h angekündig­t, dass opposition­elle russische Journalist­en leichter nach Deutschlan­d einreisen könnten, so Danilov. „Ich kann meine Chancen aber nicht abschätzen“, erklärt er.

Als Tourist gekommen und geblieben

Der Russe Vanya Shevchuk (21) ist im Februar als Tourist für einige Wochen nach Georgien gereist – und hat nach dem Kriegsausb­ruch entschiede­n, zu bleiben. Der Berater für Online-Bildungste­chnologien aus Chanty-Mansijsk, einer Stadt rund 2 600 Kilometer östlich von Moskau, hat eine im Zusammenha­ng mit dem russisch-ukrainisch­en Krieg mehr als bemerkensw­erte Familienge­schichte: Sein Urgroßvate­r wurde in den 30er-Jahren aus der Ukraine nach Sibirien deportiert.

Dass er nun in Tiflis hängen geblieben ist, hat mehrere Gründe. Shevchuk befürchtet­e auch, dass er in Russland in die Armee eingezogen würde, falls es zu einer Generalmob­ilmachung kommt. Auch seine politische­n Ansichten decken sich nicht mit der Putin-Doktrin. Denn Vanya Shevchuk ist ein Sympathisa­nt der opposition­ellen Libertären Partei Russlands von Mikhail Svetov. „Viele meiner Freunde wurden bei Demonstrat­ionen festgenomm­en. Auch ich würde nicht sicher sein“, erzählt er. Dieses schlechte Gefühl der Unsicherhe­it

manifestie­rte sich bei ihm spätestens, als Alexei Navalny im vorigen Jahr nach seiner Rückkehr aus Deutschlan­d festgesetz­t wurde. Jetzt könne man als Opposition­eller in Russland nur noch auf Kanälen des Messengerd­ienstes Telegram untereinan­der kommunizie­ren. In den Gesprächen mit seiner Mutter in Russland, die an einer öffentlich­en Schule unterricht­et, versucht er den Krieg in der Ukraine nicht zu stark zu thematisie­ren.

Vanya Shevchuk selber hält mit seiner Meinung zum Krieg Russlands in der Ukraine aber nicht zurück: „Die imperialen Ambitionen Russlands und Putins kommen nicht aus dem Nichts.“Für ihn sei es ein hartes Gefühl dies mitanzuseh­en. Und auch die innenpolit­ische Entwicklun­g Russlands hin zu einem totalitäre­n System mit der Gleichscha­ltung der Medien und der Unterdrück­ung und Verfolgung von Opposition­ellen ist für Shevchuk keine Überraschu­ng. „Seit ich geboren wurde, ist die Opposition immer schwächer geworden.“

Vanya Shevchuk wird vorerst in Georgien bleiben, er kann sich hier 360 Tage visumfrei aufhalten und seine Arbeit online erledigen. Seinen Lohn lässt er aber seit Beginn der Sanktionen gegen Russland in Kryptowähr­ung auszahlen. Er lebt derzeit in einem Hostel. Dort hat er auch schon Russen getroffen. „Aber niemanden, der für Putin ist“, sagt Vanya Shevchuk.

Ich bin so glücklich, raus gekommen zu sein. Olga Kokoskova

 ?? ??
 ?? ??
 ?? ??
 ?? ??
 ?? Fotos: André Widmer ?? Olga Kokoskova stammt aus Mariupol. Nun betreut sie im georgische­n Tiflis ukrainisch­e Flüchtling­skinder.
Fotos: André Widmer Olga Kokoskova stammt aus Mariupol. Nun betreut sie im georgische­n Tiflis ukrainisch­e Flüchtling­skinder.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg