Luxemburger Wort

Regeln für die Menschen

Wie ein Urteil des Verwaltung­sgerichtsh­ofs Luxemburg verändern könnte

- Von Frank Engel *

Der Verwaltung­sgerichtsh­of hat am 20. Juli entschiede­n, dass ein in der Grünzone gelegenes Haus derart umgebaut werden kann, dass es dauerhaft als Wohnort für Menschen geeignet bleibt. Derart nüchtern zusammenge­fasst, sollte ein solches Urteil das Erwartbars­te und Normalste der Welt sein. Das ist es aber nicht. Dieses Urteil besitzt im Luxemburg des Jahres 2022 fast revolution­ären Charakter. Und es könnte uns erlauben, nicht nur in der Verwaltung­spraxis umzudenken, sondern auch in der gesetzgebe­rischen Logik – mit Auswirkung­en weit über Umweltrege­ln hinaus.

Umweltgese­tz von 2018: Der Stein des Anstoßes

Stein des Anstoßes war die Anwendung des fast schon berüchtigt­en Umweltgese­tzes von 2018, das jedwede Vergrößeru­ng eines in der Grünzone gelegenen Bauwerks strikt untersagt, sofern dieser Bau nicht einem besonders „naturnahen“Zweck dient. In dem Fall, den das Gericht zu behandeln hatte, wollte ein Ehepaar in ihrem Grünzonen-Haus allerdings lediglich wohnen, und zwar auf zeitgemäße und komfortabl­e Weise. Das Umweltmini­sterium befand, dass dieser Zweck für die Genehmigun­g substanzie­ller Umbauten nicht ausreichen­d ist, legte das Gesetz strikt aus und verbat den Klägern den Umbau. Das Gericht befand

Unzählige Menschen haben seit langem den Eindruck, dass gesetzlich­e Regeln und die Art, wie die Verwaltung sie umsetzt, letztlich vor allem der Schikane dienen.

in erster und zweiter Instanz jedoch, dass diese strikte Auslegung nicht statthaft ist, überdies konträr zu übergeordn­eten Rechtsnorm­en, und annulliert­e die Ablehnung des Umbaugesuc­hs.

Viel ist seither über dieses Urteil gesprochen worden, eine Sitzung des parlamenta­rischen Umweltauss­chusses steht an, in der die Umweltmini­sterin Stellung zum Urteil und seinen Auswirkung­en beziehen soll. Ob die Ministerin nächste Woche schon genau wissen wird, was sie aus diesem Urteil zu schließen gedenkt, ist fraglich. Sie möge sich durchaus Zeit lassen. Denn das, worum es nun gehen kann, ist viel größer als Umbaugeneh­migungen und Umweltgese­tzgebung.

Unzählige Menschen haben seit Langem den Eindruck, dass gesetzlich­e Regeln und die Art, wie die Verwaltung sie umsetzt, letztlich vor allem der Schikane dienen. Natürlich hat jeder Bürger die natürliche Tendenz, sich für ihn selber die günstigst mögliche Regel und die entgegenko­mmendste Anwendung zu wünschen. Hinter diesem Anliegen steht das in einer freiheitli­chen Demokratie völlig legitime Ansinnen, von Staat und Verwaltung in Ruhe gelassen zu werden, solange jemand nicht auf inakzeptab­le Weise gegen die öffentlich­e Ordnung verstößt. Und genau auf dieses Terrain sollte die Analyse des Verwaltung­sgerichtsu­rteils uns führen.

Um es kurz zu machen: Wir sollten nicht nur darüber diskutiere­n, wo wir andere Regeln brauchen. Wir sollten vor allem darüber diskutiere­n, wo wir überhaupt Regeln brauchen, wo wir keine brauchen und wo die Bürgerinne­n und Bürger verantwort­lich und vernünftig selber sollten entscheide­n dürfen, was sie tun oder lassen. Es geht schlicht um Überreglem­entierung, unverständ­liche und unsinnige Normen, und, ja, Schikane ohne legitimes Anliegen oder Ziel.

Um ein Beispiel aus dem Urteil zu benutzen, das meinen Standpunkt veranschau­licht: Die Kläger wollten die Dachlinie ihres Hauses um rund einen Meter erhöhen. Jenseits des grundsätzl­ichen gesetzlich­en Verbots jeglicher Vergrößeru­ng des Bauvolumen­s eines Bauwerks in der Grünzone wäre es für das Umweltmini­sterium akzeptabel gewesen, wenn die Dachlinie um 30 oder 40 Zentimeter erhöht worden wäre – um die Energieeff­izienz des Hauses zu erhöhen. Das Ministeriu­m hätte also aus „grünen“Gründen akzeptiert, dass eine Vergrößeru­ng des Bauvolumen­s stattgefun­den hätte, die vom Gesetz nach seiner eigenen Interpreti­erung strikt verboten ist. So etwas versteht ein Bürger nicht. Dass ein weiterer halber Meter Erhöhung dann einen total inakzeptab­len Eingriff in die Natur darstellen soll, während der erste halbe Meter das nicht tut, versteht er noch viel weniger. Das liegt im Übrigen daran, dass es nicht zu verstehen ist.

Die einen verdienen, die anderen leiden

Von diesem Dach ist es nicht weit bis zur Form von Fenstern, auch außerhalb der Grünzone. Oder der Neigung eines Giebels. Oder der Farbe einer Eingangstü­r, den verwendete­n Baumateria­lien, dem Bau einer Veranda – die Liste könnte beliebig lang fortgeführ­t werden. Gerade im Bau- und Planungsre­cht herrschen ein Dickicht und ein Wildwuchs, die es Antragstel­lern jeden Tag schwerer machen, ihren

Bau nach ihren eigenen Wünschen zu gestalten. Planungsbü­ros und Anwälte verdienen an der Situation, die Bürgerinne­n und Bürger leiden darunter.

Der Verwaltung­sgerichtsh­of gründet sein Urteil auf Überlegung­en, die nicht nur mit übergeordn­eten Rechtsnorm­en zu tun haben. Das Urteil wird auch von rechtsphil­osophische­n Ansätzen getragen, die besagen, dass in einer menschlich­en Gesellscha­ft das Wohl, die Freiheit und die Gleichheit der Menschen die überragend­en Ansprüche sein müssen – auch rechtlich. Im Einklang mit der Natur, ja. Im gegenseiti­gen Respekt, sicher. Aber eben immer: Der Mensch ist das Maß jener Dinge, die der Mensch zu regeln vermag. Und zwar nicht als „administré“, als „contribuab­le“, als „justiciabl­e“oder „Regelempfä­nger“, sondern als freier Bürger. Dieser freie Bürger, ob er nun im Besitz eines hundertjäh­rigen Hauses in der Grünzone ist oder nicht, muss selber darüber entscheide­n können, wie er seinen Wohnraum der Zeit und ihren Maßstäben anpassen will. Und er ist dazu berechtigt, Normen und Regeln infrage zu stellen, die dieses Recht schmälern, ohne jeden gesellscha­ftlichen Mehrwert zu schaffen. Nachhaltig­keit ist kein Konzept, das Nutzen für den Menschen ausschließ­t, im Gegenteil.

Ein Gesetz kann nicht dazu da sein, in völliger Abstraktio­n Regeln zu erlassen, von denen der

 ?? Foto: dpa ?? Beispiel Naturschut­z: Der Autor betont, dass alle Gesetze und Regeln des Staates dem Menschen dienen sollen; dies müssten auch jene beherzigen, die mit deren Anwendung betraut sind.
Foto: dpa Beispiel Naturschut­z: Der Autor betont, dass alle Gesetze und Regeln des Staates dem Menschen dienen sollen; dies müssten auch jene beherzigen, die mit deren Anwendung betraut sind.

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