„Die Nacht wird lange und dunkel“
Das offizielle Russland nimmt die Niederlagen der letzten Tage in der Ukraine nur begrenzt wahr
Moskau feiert neue Siege. Am Samstag eröffneten Wladimir Putin und Bürgermeister Sergej Sobjanin im Rahmen der Feierlichkeiten zum 875. Jahrestag der Stadtgründung das mit 140 Meter höchste Riesenrad Europas. In einer neunminütigen Ansprache erinnerte der Staatschef auch an die Soldaten, die „für ein friedliches Leben im Donbass“kämpften und an „unsere Kampfgenossen, die ihr Leben für Russland gaben“, aber ebenso an verdiente Ärzte, Wissenschaftler und Kulturschaffende. Abends wurde ein Feuerwerk gezündet, mit über 30 000 Feuerwerkskörpern.
Aber in Russlands militärpatriotischer Szene herrscht heiliger Zorn. „Die Hauptstadt unseres Vaterlands feiert die Aufgabe von Balakleja (ukrainisch Balakliia, Anm. d. Red.), Isjum und halb Kupjansk mit Feuerwerken“, schimpft Igor Strelkow, ehemaliger DonbassKommandeur, im sozialen Netz Vkontakte. Er, andere rechte Militärblogger und Kriegsreporter kommentieren schon seit Tagen die militärische Lage im Süden der ukrainischen Region Charkiw mit
Entsetzen. „Heute ist ein Tag der nationalen Schande“, verkündete der Telegramkanal Cholmogorow am Freitag. „Das ist natürlich nicht das Ende, Russland hat ganz andere Schändlichkeiten überstanden.
Aber die Nacht wird lange und dunkel.“
Cholmogorow und der Kanal Voenkor Kotenok Z meldeten am Samstag sogar, die russischen Truppen seien dabei, das Gebiet
Charkiw komplett zu räumen. Vergangene Woche war die seit Monaten festgefahrene Front im Süden der Region heftig in Bewegung geraten. Am Montag hatten die Ukrainer dort eine Gegenoffensive gestartet, am Freitag bestätigten auch Moskaus Blogger, dass der Feind Balakliia zurückerobert, gestern, dass er den 62 Kilometer nordöstlicher gelegenen Verkehrsknotenpunkt Kupjansk erreicht hat. „Viele glauben, das ist der Anfang vom Ende“, schrieb der Kanal Partizan.
Volksentscheide wohl verschoben Das offizielle Russland aber nimmt die Ereignisse nur begrenzt wahr. Verteidigungsminister Sergei Schoigu gratulierte der Armee gestern zum „Tag der Panzertruppen“, deren Soldaten in der Ukraine „exakt und kompetent“agierten. Die Pressestelle seines Ministeriums erklärte am Samstag, man habe beschlossen, die russischen Truppen, die sich im Raum Balakliia und Isjum befänden, umzugruppieren und auf dem Gebiet der Donezker Rebellenrepublik zu konzentrieren. Artillerie und Luftwaffe hätten dabei über 2 000 Feinde getötet, gestern korrigierte man diese Streckenmeldung auf 4 000 hoch.
Jedoch soll der Kreml laut dem Exilportal meduza.io darüber nachdenken, die für November in den besetzten ukrainischen Regionen geplanten Volksentscheide für einen Beitritt zu Russland auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Und Tschetschenenchef Ramsan Kadyrow verlangte kardinale militärische Änderungen in der Ukraine. „Sonst bin ich gezwungen, mit der Führung des Landes zu reden, um ihr die Lage zu erklären.“Gleichzeitig versicherte er, alle verlorenen Städte würden zurückerobert, außerdem werde man demnächst Odessa einnehmen.
Die rechte Bloggerszene ruft die Bürger zu Heldenmut wie im Krieg gegen Hitler auf, fordert von den Politikern eine Generalmobilmachung. „Aber der Kreml will keine kriegsbegeisterten, bewaffneten Massen, die könnten ihm selbst gefährlich werden“, sagt der Politologe Juri Korgonjuk. „Und die Bürger, die den Ukraine-Feldzug unterstützen, betrachten ihn als Fußballspiel, das man vor dem Fernseher gewinnen kann.“Doch der Spielverlauf verwirrt sich aus russischer Sicht zusehends.