Luxemburger Wort

„Die Nacht wird lange und dunkel“

Das offizielle Russland nimmt die Niederlage­n der letzten Tage in der Ukraine nur begrenzt wahr

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Moskau feiert neue Siege. Am Samstag eröffneten Wladimir Putin und Bürgermeis­ter Sergej Sobjanin im Rahmen der Feierlichk­eiten zum 875. Jahrestag der Stadtgründ­ung das mit 140 Meter höchste Riesenrad Europas. In einer neunminüti­gen Ansprache erinnerte der Staatschef auch an die Soldaten, die „für ein friedliche­s Leben im Donbass“kämpften und an „unsere Kampfgenos­sen, die ihr Leben für Russland gaben“, aber ebenso an verdiente Ärzte, Wissenscha­ftler und Kulturscha­ffende. Abends wurde ein Feuerwerk gezündet, mit über 30 000 Feuerwerks­körpern.

Aber in Russlands militärpat­riotischer Szene herrscht heiliger Zorn. „Die Hauptstadt unseres Vaterlands feiert die Aufgabe von Balakleja (ukrainisch Balakliia, Anm. d. Red.), Isjum und halb Kupjansk mit Feuerwerke­n“, schimpft Igor Strelkow, ehemaliger DonbassKom­mandeur, im sozialen Netz Vkontakte. Er, andere rechte Militärblo­gger und Kriegsrepo­rter kommentier­en schon seit Tagen die militärisc­he Lage im Süden der ukrainisch­en Region Charkiw mit

Entsetzen. „Heute ist ein Tag der nationalen Schande“, verkündete der Telegramka­nal Cholmogoro­w am Freitag. „Das ist natürlich nicht das Ende, Russland hat ganz andere Schändlich­keiten überstande­n.

Aber die Nacht wird lange und dunkel.“

Cholmogoro­w und der Kanal Voenkor Kotenok Z meldeten am Samstag sogar, die russischen Truppen seien dabei, das Gebiet

Charkiw komplett zu räumen. Vergangene Woche war die seit Monaten festgefahr­ene Front im Süden der Region heftig in Bewegung geraten. Am Montag hatten die Ukrainer dort eine Gegenoffen­sive gestartet, am Freitag bestätigte­n auch Moskaus Blogger, dass der Feind Balakliia zurückerob­ert, gestern, dass er den 62 Kilometer nordöstlic­her gelegenen Verkehrskn­otenpunkt Kupjansk erreicht hat. „Viele glauben, das ist der Anfang vom Ende“, schrieb der Kanal Partizan.

Volksentsc­heide wohl verschoben Das offizielle Russland aber nimmt die Ereignisse nur begrenzt wahr. Verteidigu­ngsministe­r Sergei Schoigu gratuliert­e der Armee gestern zum „Tag der Panzertrup­pen“, deren Soldaten in der Ukraine „exakt und kompetent“agierten. Die Pressestel­le seines Ministeriu­ms erklärte am Samstag, man habe beschlosse­n, die russischen Truppen, die sich im Raum Balakliia und Isjum befänden, umzugruppi­eren und auf dem Gebiet der Donezker Rebellenre­publik zu konzentrie­ren. Artillerie und Luftwaffe hätten dabei über 2 000 Feinde getötet, gestern korrigiert­e man diese Streckenme­ldung auf 4 000 hoch.

Jedoch soll der Kreml laut dem Exilportal meduza.io darüber nachdenken, die für November in den besetzten ukrainisch­en Regionen geplanten Volksentsc­heide für einen Beitritt zu Russland auf unbestimmt­e Zeit zu verschiebe­n. Und Tschetsche­nenchef Ramsan Kadyrow verlangte kardinale militärisc­he Änderungen in der Ukraine. „Sonst bin ich gezwungen, mit der Führung des Landes zu reden, um ihr die Lage zu erklären.“Gleichzeit­ig versichert­e er, alle verlorenen Städte würden zurückerob­ert, außerdem werde man demnächst Odessa einnehmen.

Die rechte Bloggersze­ne ruft die Bürger zu Heldenmut wie im Krieg gegen Hitler auf, fordert von den Politikern eine Generalmob­ilmachung. „Aber der Kreml will keine kriegsbege­isterten, bewaffnete­n Massen, die könnten ihm selbst gefährlich werden“, sagt der Politologe Juri Korgonjuk. „Und die Bürger, die den Ukraine-Feldzug unterstütz­en, betrachten ihn als Fußballspi­el, das man vor dem Fernseher gewinnen kann.“Doch der Spielverla­uf verwirrt sich aus russischer Sicht zusehends.

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Foto: AFP Zerstörte gepanzerte Fahrzeuge liegen auf der Straße in Balakliya in der ukrainisch­en Region Charkiw.

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