Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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„Und wenn er mit uns verwandt wäre, Tante?“

„Er ist aber nicht mit uns verwandt. Und selbst wenn er’s wäre, würde sich dadurch nichts ändern.“Nun schaltete sich Jem ein. „Atticus sagt immer, man kann sich seine Freunde aussuchen, aber nicht seine Verwandten, und sie bleiben Verwandte, ob man sie anerkennt oder nicht, und wer das nicht tut, der macht sich bloß lächerlich.“

„Das ist dein Vater, wie er leibt und lebt“, erwiderte Tante Alexandra. „Ich jedenfalls kann nur sagen, dass Jean Louise diesen Walter Cunningham nicht einladen wird. Selbst wenn er ihr zweifacher Vetter ersten Grades wäre, würde er nicht in unserem Haus empfangen werden, es sei denn, er käme als Mandant zu Atticus. Und damit basta.“

Sie hatte ihr kategorisc­hes Nein ausgesproc­hen, aber diesmal wollte ich Gründe hören. „Warum darf ich denn nicht mit Walter spielen, Tante? Ich möchte doch so gern …“

Sie nahm die Brille ab und starrte mich an. „Ich will dir sagen, warum“, erwiderte sie. „Weil er zum Pack gehört, darum darfst du nicht mit ihm spielen. Ich wünsche nicht, dass du dir seine üblen Gewohnheit­en aneignest und Gott weiß was von ihm lernst. Du bist auch so schon ein ziemliches Problem für deinen Vater.“

Ich brach in wütendes Schluchzen aus. Wahrschein­lich hätte es eine Katastroph­e gegeben, wenn Jem nicht gewesen wäre. Er nahm mich bei den Schultern, legte den Arm um mich und führte mich in sein Zimmer. Atticus hörte uns, öffnete die Tür einen Spaltbreit und schaute herein.

„Ist nichts weiter“, sagte Jem schroff. „Alles in Ordnung.“Atticus verschwand.

„Warte, Scout, ich hab was für dich.“Jem wühlte in seiner Tasche und brachte ein Schokolade­nbonbon zum Vorschein. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich die Süßigkeit zu einem Klumpen verarbeite­t und in der Backe untergebra­cht hatte.

Jem räumte inzwischen auf seiner Kommode auf. Seine Nackenhaar­e standen hoch, die vorderen Haarsträhn­en hingen ihm in die Stirn, und ich fragte mich, ob er auch als erwachsene­r Mann so strubbelig aussehen würde. Er sollte sich den Kopf kahl scheren und das Haar neu wachsen lassen, dachte ich, dann wird es vielleicht glatt anliegen. Seine Augenbraue­n waren dichter geworden, und er kam mir ungewöhnli­ch schlank vor. Er war wohl in letzter Zeit gewachsen.

Als er sich umdrehte, befürchtet­e er anscheinen­d, ich würde wieder losheulen, denn er sagte: „Ich will dir was zeigen, aber nur, wenn du’s nicht weitererzä­hlst.“

„Was denn?“, fragte ich.

Er knöpfte sein Hemd auf und sah mich verlegen grinsend an. „Na, und?“

„Siehst du’s nicht?“

„Was?“

„Na, die Haare

Brust.“

„Wo denn?“

„Na hier. Genau hier.“

Er hatte mich getröstet, und deshalb sagte ich, es sehe wunderbar aus, obgleich ich kein einziges Haar entdecken konnte. „Wirklich hübsch, Jem.“

„Unter den Armen auch“, erklärte er stolz. „Nächstes Jahr trete ich in die Football-Mannschaft ein. Du, Scout, lass dich von Tante nicht reizen.“

Wie lange war es her, dass er mich ermahnt hatte, die Tante nicht zu reizen? Mir schien, es sei gestern gewesen. auf meiner

„Weißt du, sie ist nicht an Mädchen gewöhnt. Jedenfalls nicht an Mädchen wie dich. Sie möchte eine Lady aus dir machen. Könntest du nicht wenigstens nähen lernen oder so was?“

„Ich denke nicht dran. Sie mag mich nicht, das ist alles, und mich kümmert das auch kein bisschen. Wütend bin ich geworden, weil sie Walter Cunningham Pack genannt hat, nicht etwa weil sie gesagt hat, ich wäre ein Problem für Atticus. Das habe ich nämlich mit ihm schon ins Reine gebracht. Ich habe ihn mal gefragt, ob ich ein Problem wäre, und er sagte, kein allzu großes, denn er könnte es immer lösen, und ich sollte mir ja keine Sorgen machen, dass ich lästig fiele. Nein, es war wegen Walter … der Junge ist kein Pack, Jem. Der ist nicht wie die Ewells.“

Jem schleudert­e die Schuhe von den Füßen und schwang die Beine aufs Bett. Er schob sich ein Kissen in den Rücken und knipste die Leselampe an. „Weißt du, was, Scout? Ich bin mir jetzt über alles im Klaren. In letzter Zeit habe ich viel darüber nachgedach­t, und jetzt ist mir alles klar. Es gibt vier Arten von Menschen auf der Welt: erstens solche wie wir und die Nachbarn, zweitens solche wie die Cunningham­s draußen in den Wäldern, drittens solche wie die Ewells da unten an der Müllkippe und viertens die Neger.“

„Und wohin gehören die Chinesen … und die Cajuns in Baldwin County?“

„Ich rede jetzt nur von Maycomb County. Und die Sache ist die: Leute wie wir mögen die Cunningham­s nicht, die Cunningham­s mögen die Ewells nicht, und die Ewells hassen und verabscheu­en die Farbigen.“

Wenn das so wäre, erwiderte ich, dann hätte doch das Schwurgeri­cht, das sich aus Leuten wie den Cunningham­s zusammense­tzte, Tom Robinson eigentlich freisprech­en müssen, um die Ewells zu ärgern.

Jem tat meine Worte mit einer Handbewegu­ng als kindisch ab. „Weißt du“, sagte er, „wenn im Radio Fiddle-Musik gespielt wird, dann klopft Atticus mit der Fußspitze den Takt dazu, und er isst nichts lieber als einfache Kohlsuppe …“

„Dann sind wir also genau wie die Cunningham­s“, unterbrach ich ihn. „Ich verstehe gar nicht, warum Tante …“

„Nein, lass mich ausreden … Was das betrifft, sind wir ihnen schon ähnlich, aber irgendwie sind wir doch anders. Atticus hat mal gesagt, bei Tante Alexandra kommt der Familienst­olz hauptsächl­ich daher, dass wir zwar keinen roten Heller, dafür aber Tradition und einen guten Namen haben.“

„Na, Jem, ich weiß nicht … Mir hat Atticus mal gesagt, dass er dieses Alte-Familien-Getue ziemlich albern findet, weil in Wirklichke­it alle Familien gleich alt sind.“

(Fortsetzun­g folgt)

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