Luxemburger Wort

„Wir sind nicht Afghanista­n“

Der ukrainisch­e Sieg bei Isjum ist eine Kriegswend­e – Geschlagen ist Russland aber noch lange nicht

- Von Dmytro Durnjew Karikatur: Florin Balaban

Er habe sich die Flagge Russlands und das sowjetisch­e Siegesbann­er unter die Achsel geklemmt, erzählt ein Sanitätsma­jor der halbstaatl­ichen russischen Zeitung „Komsomolsk­aja Prawda“. „Und so bin ich mit ihnen am Herzen aus der Einkreisun­g herausgeko­mmen.“Russlands Medien beschwören zurzeit altvertrau­te Heldenbild­er aus den ersten Monaten des „Großen Vaterländi­schen Krieges“gegen Hitlers Wehrmacht. Damals wurden Hunderttau­sende Rotarmiste­n eingekesse­lt, ehe die Sowjettrup­pen in der Abwehrschl­acht von Moskau die Kriegswend­e erzwangen.

Jetzt aber sieht es nach einer Kriegswend­e gegen Russland aus. In den vergangene­n Tagen haben die ukrainisch­en Streitkräf­te die russischen Truppen im Raum Isjum zerschlage­n, die retteten sich nur durch fluchtarti­gen Rückzug vor der Einkesselu­ng. Die Ukrainer vertrieben die Russen auch aus einem Großteil der Charkiwer Region weiter nördlich und erreichten an mehreren Stellen die Staatsgren­ze. „Eine Sensation“kommentier­t der russische Exil-Sender TV Doschd. Auch in anderen Frontabsch­nitten stehen Putins Einheiten unter Druck. Und westliche Militärexp­erten diskutiere­n, ob die Ukrainer nach sechs Monaten in der Defensive das Blatt entscheide­nd gewendet haben.

Verlorener Angelpunkt

Die russische Truppenkon­zentration bei Isjum galt als nördlicher Angelpunkt der seit Anfang April laufenden Großoffens­ive gegen die ukrainisch­en Positionen im Donbass. Von dort versuchten russische Truppen monatelang auf die Stadt Slawjansk vorzustoße­n, um danach Kramatorsk, die wichtigste ukrainisch­e Stadt im Donezker Gebiet, einkreisen zu können. Nach dem Verlust der Verkehrskn­otenpunkte Isjum und Kupjansk ist das nicht mehr möglich. Und das Minimalzie­l Wladimir Putins in der Ukraine, die „Befreiung“des gesamten Donbass, ist in weite Ferne gerückt. „Man kann von einer strategisc­hen Wende reden“, sagt Oleksi Melnyk, Sicherheit­sexperte des Kiewer Rasumkow-Instituts. Auch das amerikanis­che Institut für Kriegsstud­ien erwartet, dass die Ukrainer künftig immer häufiger Ort und Charakter der Kampfhandl­ungen bestimmen.

Die Fachwelt ist sich einig, dass die Lieferung moderner Geschütze die Schlacht von Isjum mit entschiede­n hat. Vor allem HIMARSRake­tenwerfer aus den USA, die die russischen Gegenstück­e an Reichweite und Genauigkei­t deutlich übertreffe­n. Und die „New York Times“zitierte am Montag amerikanis­che Regierungs­beamte, man habe den Ukrainern aktiv Aufklärung­sdaten zur Verfügung gestellt. „Wir streiten nicht über die Verdienste unserer Verbündete­n“, sagt Melnyk. „Und die Lieferung der westlichen Waffensyst­eme ist für uns absolut unverzicht­bar. Aber zu Beginn des Krieges wurde die Ukraine immer wieder mit Afghanista­n verglichen. Die Amerikaner haben Milliarden Dollar in Ausbildung und Ausrüstung der afghanisch­en Armee

gesteckt, das Ergebnis ist bekannt.“

Ohne profession­elle und motivierte Bedienung verwandelt­en sich die besten Waffen in teure Feindtroph­äen, so Melnyk. „Und diese Waffen müssen in ein schlagkräf­tiges taktisches und strategisc­hes Konzept integriert werden.“Die Ukraine hatte solche Soldaten und solch ein Konzept. Fraglich ist aber auch, ob das kühne Tempo der ukrainisch­en Stoßtrupps bei Isjum nur eine Frage westlichen Knowhows war.

Sorge vor Atomwaffen

Beobachter auf beiden Seiten erwarten, dass Russland sich in den nächsten Tagen aus einem Großteil der Region Charkiw zurückzieh­en wird. Die russische Seite meldet heftige Abwehrkämp­fe um Liman im Norden des Donbass, außerdem ukrainisch­e Angriffsvo­rbereitung­en bei Wuhledar südwestlic­h von Donezk, die auch auf Mariupol zielen könnten. Aber die russischen Blogger argwöhnen, das könne wieder ein Ablenkungs­manöver sein, wie die ukrainisch­en August-Angriffe an der Südfront bei Cherson. Wo die Russen jetzt auch in Bedrängnis sind. Sie haben immer größere Probleme, unter ukrainisch­em Artillerie­feuer Nachschub über den Dnjepr zu schaffen.

Noch ist unklar, wer mehr frische Truppen in die Schlacht werfen kann. Und angesichts der Grenznähe erwartet Sicherheit­sexperte Melnyk, dass sich der russische Widerstand im Donbass verhärtet. Aber auch, dass bei den Artillerie­gefechten immer häufiger russisches Gebiet unter Beschuss gerät.

Russlands Kommandeur­e antworten auf ihre Weise. Nachdem man schon am Sonntag zahlreiche Raketenang­riffe auf Strom- und Wasserwerk­e in Charkiw und andere Städte geführt hatte, fielen am Montag nach neuen Einschläge­n erneut Strom und Wasser in Charkiw aus. Melnyk und andere ukrainisch­e Experten warnen, weitere russische Schlappen könnten eskalieren­de Racheakte nach sich ziehen, einschließ­lich des Einsatzes taktischer Atomwaffen oder radioaktiv­er Provokatio­nen im Atomkraftw­erk Saporischs­chja. Russische Propagandi­sten beschwören schon jetzt Untergangs­szenarien. „Kiew (und seine Kuratoren) brauchen die Vernichtun­g Russlands als Staat und die Endlösung der Russenfrag­e“, erklärte der Moskauer Stadtrat Andrei Medwedew am Montag auf seinem Telegram-Kanal.

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