„Wir sind nicht Afghanistan“
Der ukrainische Sieg bei Isjum ist eine Kriegswende – Geschlagen ist Russland aber noch lange nicht
Er habe sich die Flagge Russlands und das sowjetische Siegesbanner unter die Achsel geklemmt, erzählt ein Sanitätsmajor der halbstaatlichen russischen Zeitung „Komsomolskaja Prawda“. „Und so bin ich mit ihnen am Herzen aus der Einkreisung herausgekommen.“Russlands Medien beschwören zurzeit altvertraute Heldenbilder aus den ersten Monaten des „Großen Vaterländischen Krieges“gegen Hitlers Wehrmacht. Damals wurden Hunderttausende Rotarmisten eingekesselt, ehe die Sowjettruppen in der Abwehrschlacht von Moskau die Kriegswende erzwangen.
Jetzt aber sieht es nach einer Kriegswende gegen Russland aus. In den vergangenen Tagen haben die ukrainischen Streitkräfte die russischen Truppen im Raum Isjum zerschlagen, die retteten sich nur durch fluchtartigen Rückzug vor der Einkesselung. Die Ukrainer vertrieben die Russen auch aus einem Großteil der Charkiwer Region weiter nördlich und erreichten an mehreren Stellen die Staatsgrenze. „Eine Sensation“kommentiert der russische Exil-Sender TV Doschd. Auch in anderen Frontabschnitten stehen Putins Einheiten unter Druck. Und westliche Militärexperten diskutieren, ob die Ukrainer nach sechs Monaten in der Defensive das Blatt entscheidend gewendet haben.
Verlorener Angelpunkt
Die russische Truppenkonzentration bei Isjum galt als nördlicher Angelpunkt der seit Anfang April laufenden Großoffensive gegen die ukrainischen Positionen im Donbass. Von dort versuchten russische Truppen monatelang auf die Stadt Slawjansk vorzustoßen, um danach Kramatorsk, die wichtigste ukrainische Stadt im Donezker Gebiet, einkreisen zu können. Nach dem Verlust der Verkehrsknotenpunkte Isjum und Kupjansk ist das nicht mehr möglich. Und das Minimalziel Wladimir Putins in der Ukraine, die „Befreiung“des gesamten Donbass, ist in weite Ferne gerückt. „Man kann von einer strategischen Wende reden“, sagt Oleksi Melnyk, Sicherheitsexperte des Kiewer Rasumkow-Instituts. Auch das amerikanische Institut für Kriegsstudien erwartet, dass die Ukrainer künftig immer häufiger Ort und Charakter der Kampfhandlungen bestimmen.
Die Fachwelt ist sich einig, dass die Lieferung moderner Geschütze die Schlacht von Isjum mit entschieden hat. Vor allem HIMARSRaketenwerfer aus den USA, die die russischen Gegenstücke an Reichweite und Genauigkeit deutlich übertreffen. Und die „New York Times“zitierte am Montag amerikanische Regierungsbeamte, man habe den Ukrainern aktiv Aufklärungsdaten zur Verfügung gestellt. „Wir streiten nicht über die Verdienste unserer Verbündeten“, sagt Melnyk. „Und die Lieferung der westlichen Waffensysteme ist für uns absolut unverzichtbar. Aber zu Beginn des Krieges wurde die Ukraine immer wieder mit Afghanistan verglichen. Die Amerikaner haben Milliarden Dollar in Ausbildung und Ausrüstung der afghanischen Armee
gesteckt, das Ergebnis ist bekannt.“
Ohne professionelle und motivierte Bedienung verwandelten sich die besten Waffen in teure Feindtrophäen, so Melnyk. „Und diese Waffen müssen in ein schlagkräftiges taktisches und strategisches Konzept integriert werden.“Die Ukraine hatte solche Soldaten und solch ein Konzept. Fraglich ist aber auch, ob das kühne Tempo der ukrainischen Stoßtrupps bei Isjum nur eine Frage westlichen Knowhows war.
Sorge vor Atomwaffen
Beobachter auf beiden Seiten erwarten, dass Russland sich in den nächsten Tagen aus einem Großteil der Region Charkiw zurückziehen wird. Die russische Seite meldet heftige Abwehrkämpfe um Liman im Norden des Donbass, außerdem ukrainische Angriffsvorbereitungen bei Wuhledar südwestlich von Donezk, die auch auf Mariupol zielen könnten. Aber die russischen Blogger argwöhnen, das könne wieder ein Ablenkungsmanöver sein, wie die ukrainischen August-Angriffe an der Südfront bei Cherson. Wo die Russen jetzt auch in Bedrängnis sind. Sie haben immer größere Probleme, unter ukrainischem Artilleriefeuer Nachschub über den Dnjepr zu schaffen.
Noch ist unklar, wer mehr frische Truppen in die Schlacht werfen kann. Und angesichts der Grenznähe erwartet Sicherheitsexperte Melnyk, dass sich der russische Widerstand im Donbass verhärtet. Aber auch, dass bei den Artilleriegefechten immer häufiger russisches Gebiet unter Beschuss gerät.
Russlands Kommandeure antworten auf ihre Weise. Nachdem man schon am Sonntag zahlreiche Raketenangriffe auf Strom- und Wasserwerke in Charkiw und andere Städte geführt hatte, fielen am Montag nach neuen Einschlägen erneut Strom und Wasser in Charkiw aus. Melnyk und andere ukrainische Experten warnen, weitere russische Schlappen könnten eskalierende Racheakte nach sich ziehen, einschließlich des Einsatzes taktischer Atomwaffen oder radioaktiver Provokationen im Atomkraftwerk Saporischschja. Russische Propagandisten beschwören schon jetzt Untergangsszenarien. „Kiew (und seine Kuratoren) brauchen die Vernichtung Russlands als Staat und die Endlösung der Russenfrage“, erklärte der Moskauer Stadtrat Andrei Medwedew am Montag auf seinem Telegram-Kanal.