Niederländer lassen sich Urlaub ausbezahlen
Im größten Benelux-Staat ist der Anstieg der Energiepreise besonders hoch
Zunächst hatten viele Niederländer wegen der galoppierenden Inflation „nur“Geldstress. Jetzt aber wandelt sich der Geldstress in eine regelrechte Geldnot. Die Inflation in den Niederlanden galoppiert und ist im vergangenen Monat August auf 13,6 Prozent geschnellt. Alles wird teurer: Lebensmittel, Strom und Energie sowieso.
Die Energiepreise haben sich verdreifacht. Zwar hat die Haager Regierung gerade ein neues Hilfspaket mit einem Volumen von 15 Milliarden Euro geschnürt, das die unteren und mittleren Einkommen entlastet und subventioniert. Es tritt aber erst am 1. Januar 2023 in Kraft. Bis dahin müssen viele Niederländer aus eigener Kraft über die Runden kommen. Aber Not macht erfinderisch.
Viele Niederländer haben zwei neue Geldquellen entdeckt, die sie nun anzapfen. Es sind die Pfandhäuser, wo sie ihre Wertsachen beleihen können und dafür Bargeld erhalten. Es sind die Urlaubstage, auf die sie nun verzichten. Stattdessen lassen sie sich das Geld für den nicht genommenen Urlaub vom Arbeitgeber ausbezahlen. Die Pfandhäuser berichten, dass ihre Umsätze in den zurückliegenden sechs Monaten um 40 Prozent gestiegen sind. „Kunden, die früher nur einmal einen Ring verpfändet haben, legen jetzt ihren gesamten Schmuck auf den Tisch und wollen dafür Geld“, sagt Pfandhausmanager Geertjan de Keijzer und berichtet von einer 62-jährigen Frau. „Sie brachte uns ihr liebstes Stück. Eine goldene Halskette mit
Diamantencollier. Die hatte sie von ihrer Mutter geerbt und immer gerne getragen. Jetzt hat sie das Schmuckstück verpfändet.“Auch ganze Münzsammlungen würden immer häufiger in Pfandhäusern angeboten.
Hauptsache liquide
Aber das Verpfänden von Wertsachen ist eine teure Angelegenheit. Man bekommt zwar schnell Bargeld und kann die verpfändeten
Gegenstände auch wieder zurückkaufen, wenn man wieder liquide ist, aber für die Pfanddauer fallen hohe Zinsen an. In den Niederlanden sind das 4,5 Prozent pro Monat.
Dennoch nehmen viele Menschen diese horrenden Zinsen in Kauf und sagen sich: Lieber die zuhause liegenden Wertsachen verpfänden als zahlungsunfähig werden. So kann man wenigstens noch die laufenden Rechnungen noch bezahlen. Die Menschen, die ihre Wertsachen verpfänden, wollen schnell Geld, und sie wollen ihre Geldprobleme selbst regeln.
Die andere Möglichkeit, die Niederländer nun nutzen, um an zusätzliches Geld zu kommen, besteht darin, sich ihre zusätzlichen Urlaubstage versilbern zu lassen. Jeder Niederländer hat einen gesetzlichen Mindesturlaubsanspruch von 20 Arbeitstagen. Der kann nicht ausgezahlt werden.
Aber in vielen Tarifverträgen werden zusätzliche Urlaubstage vereinbart. Durchschnittlich etwa sechs weitere Urlaubstage. Diese zusätzlichen Urlaubstage kann man sich ausbezahlen lassen, indem man auf den Urlaub verzichtet und beim Arbeitgeber die Auszahlung dieser zusätzlichen Urlaubstage anfragt.
Lebensstil radikal ändern
Voraussetzung aber ist, dass der Arbeitgeber damit einverstanden ist und die zusätzlichen Urlaubstage auch tatsächlich ausbezahlt. Da in vielen niederländischen Branchen derzeit großer Arbeitskräftemangel herrscht, stimmen die meisten Arbeitgeber diesen Anträgen zu: Sie zahlen die zusätzlichen Urlaubstage aus, weil sie Arbeitskräfte brauchen.
Die Angst, in Zahlungsschwierigkeiten zu kommen, ist in den Niederlanden groß. Aus einer Studie des Dienstleisters Visma Raet geht hervor, dass rund 40 Prozent aller niederländischen Arbeitnehmer fürchten, dass sie im kommenden Jahr ihre laufenden Rechnungen für Gas, Heizung, Wasser oder Strom nicht mehr bezahlen können. 34 Prozent der Befragten gaben an: Wir müssen unseren Lebensstil radikal verändern. htz