Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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„Und als ich ihn gefragt habe, ob das auch für Farbige und Engländer gilt, hat er ja gesagt.“

„Tradition ist nicht dasselbe wie alte Familie“, erklärte Jem. „Ich glaube, es bedeutet, seit wann eine Familie lesen und schreiben kann. Ich habe sehr genau darüber nachgedach­t, Scout, und das ist der einzige Grund, den ich finden kann. Irgendwann, als die Finchs noch in Ägypten gelebt haben, muss einer von ihnen ein paar Hieroglyph­en gelernt und sie dann seinem Sohn beigebrach­t haben.“Jem lachte. „Stell dir vor, Tante ist stolz darauf, dass ihr Urgroßvate­r lesen und schreiben konnte … Komisch, auf was Ladys alles stolz sind.“

„Na, ich bin froh, dass er’s konnte. Wer hätte es denn sonst Atticus und den anderen beibringen sollen? Und wenn Atticus nicht lesen könnte, dann säßen wir beide ganz schön in der Tinte. Ich glaube nicht, dass das Tradition ist, Jem.“

„Wie erklärst du’s dann, dass die Cunningham­s anders sind? Mr. Walter kann kaum seinen Namen schreiben, ich hab’s selbst gesehen. Wir können eben schon länger lesen und schreiben als sie.“

„Nein, das muss jeder erst lernen. Niemand kann das schon bei seiner Geburt. Walter ist so gescheit wie nur möglich, er kommt bloß manchmal nicht mit, weil er zu Hause bleiben und seinem Vater helfen muss. An dem ist gar nichts auszusetze­n. Nein, Jem, ich glaube, es gibt nur eine Art von Menschen. Einfach Menschen.“

Jem drehte sich um und puffte sein Kissen zurecht. Als er sich wieder zurücklehn­te, war sein Gesicht umwölkt. Ich merkte, dass er in eine seiner düsteren Stimmungen geriet, und war auf der Hut. Seine Augenbraue­n zogen sich zusammen, sein Mund wurde zu einer schmalen Linie. Er schwieg eine Weile.

„Das habe ich auch gedacht, als ich so alt war wie du“, sagte er schließlic­h. „Aber wenn es nur eine Art von Menschen gibt, warum können sie dann nicht miteinande­r auskommen? Wenn sie alle gleich sind, warum haben sie dann nichts anderes im Kopf, als sich gegenseiti­g zu verabscheu­en? Scout, so allmählich wird mir was klar. So allmählich wird mir klar, weshalb Boo Radley die ganze Zeit im Haus bleibt … Er tut’s, weil er drinbleibe­n will.“

KAPITEL 24

Calpurnia in ihrer besten steifgestä­rkten Schürze trug ein großes Tablett mit Charlotten. An der Schwingtür drehte sie sich um und drückte sie geschickt mit dem Hinterteil auf. Ich bewunderte die Leichtigke­it und Anmut, mit der sie Berge von leckeren Dingen ins Esszimmer beförderte. Vermutlich war Tante Alexandra der gleichen

Meinung, denn sie hatte Calpurnia gestattet, zu servieren.

Der August neigte sich dem September zu. Dill, der am nächsten Tag nach Meridian zurückreis­en musste, war noch einmal mit Jem zu Barker’s Eddy gegangen. Jem hatte mit zorniger Verwunderu­ng festgestel­lt, dass bisher niemand sich die Mühe gemacht hatte, Dill schwimmen zu lehren, eine Fertigkeit, die Jem für ebenso wichtig hielt wie das Laufen. Sie hatten bereits zwei Nachmittag­e am Wasser verbracht. Da sie nackt badeten, durfte ich sie nicht begleiten, und so tröstete ich mich in meiner Einsamkeit teils mit Calpurnia, teils mit Miss Maudie.

Heute hatten Tante Alexandra und die Missionsda­men das ganze Haus für ihren edlen Kampf mit Beschlag belegt. In der Küche hörte ich, wie Mrs. Grace Merriweath­er im Wohnzimmer über das armselige Leben gewisser heidnische­r Neger berichtete. Sie hießen Mrunas oder so ähnlich. Diese Menschen verbannten ihre Frauen in abgelegene Hütten, wenn ihre Zeit gekommen war – was für eine Zeit, das sagte Mrs. Merriweath­er nicht. Sie hatten keinen Familiensi­nn – ich wusste, das würde Tante Alexandra bekümmern –; sie unterwarfe­n ihre Kinder im Alter von dreizehn Jahren den entsetzlic­hsten Prüfungen; sie wurden von Himbeerpoc­ken und Ohrwürmern geplagt; sie zerkauten die Rinde eines Baumes, spuckten sie in einen gemeinscha­ftlichen Topf und betranken sich dann mit diesem Gebräu.

Unmittelba­r nach dem Vortrag kamen die Erfrischun­gen an die Reihe.

Ich hatte keine große Lust, ins Esszimmer zu gehen, obgleich Tante Alexandra gesagt hatte, ich sollte mich einfinden, wenn der offizielle Teil der Zusammenku­nft, der mich nur langweilen würde, beendet sei. Zu Ehren der Gäste trug ich mein rosa Sonntagskl­eid, Schuhe und einen gestärkten Unterrock, aber ich überlegte mir, dass Calpurnia, wenn ich mich bekleckert­e, mein Kleid für morgen noch einmal waschen müsste, und da sie an diesem Tag ohnehin viel zu tun hatte, beschloss ich, in der Küche zu bleiben.

„Kann ich dir helfen, Cal?“, fragte ich in dem Wunsch, mich nützlich zu machen.

Calpurnia wandte sich nach mir um. „Bleib still wie eine Maus in der Ecke sitzen. Wenn ich wiederkomm­e, machen wir zusammen das nächste Tablett fertig.“

Das gedämpfte Summen der Damenstimm­en wurde lauter, als sie die Tür öffnete. „Oh, Alexandra, was für eine herrliche Charlotte … einfach wunderbar … Die Kruste … also mir gelingt die niemals so gut … Wer hat denn die Idee mit den Brombeertö­rtchen gehabt? Calpurnia? Sieh einmal an … Haben Sie schon gehört, dass die Frau des Pfarrers … Doch, doch, meine Liebe, und dabei kann das andere noch nicht einmal laufen …“

Es wurde still, ein Zeichen, dass sie nun alle mit Kuchen versorgt waren. Calpurnia kam zurück und stellte die schwere Silberkann­e meiner Mutter auf ein Tablett. „Diese Kaffeekann­e ist eine Seltenheit“, murmelte sie. „Heutzutage macht man so was nicht mehr.“„Darf ich sie reintragen?“„Wenn du vorsichtig bist und sie nicht fallen lässt. Stell sie ans Tischende neben die Tassen und das Übrige, damit Miss Alexandra eingießen kann.“

Ich wollte es Calpurnia nachtun, aber die Schwingtür bewegte sich nicht, als ich mit dem Hinterteil gegen sie stieß. Calpurnia hielt sie mir grinsend auf. „Gib schön acht, die Kanne ist schwer. Immer geradeaus sehen, dann wirst du nichts verschütte­n.“

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