Wer die Nachtigall stört
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Mein Einzug ging gut vonstatten, und Tante Alexandra lächelte strahlend. „Bleib bei uns, Jean Louise“, sagte sie. Das gehörte zu ihrem Erziehungsprogramm: Sie wollte eine Lady aus mir machen.
Zum geselligen Teil der Missionszusammenkünfte pflegte jede Gastgeberin ihre Nachbarinnen einzuladen, mochten sie nun Baptisten oder Presbyterianer sein. Das erklärte die Anwesenheit von Miss Rachel (nüchtern wie ein Richter), von Miss Maudie und Miss Stephanie. Verlegen nahm ich neben Miss Maudie Platz. Warum hatten die Ladys für den kurzen Weg von einem Haus zum anderen ihre Hüte aufgesetzt? Ladys in Gruppen weckten in mir stets eine unbestimmte Furcht und den lebhaften Wunsch, anderswo zu sein. Aber das eben war es, was Tante Alexandra „unerzogen“nannte.
Die Ladys trugen leichte Kleider in zarten Pastellfarben. Fast alle waren stark gepudert, doch sie hatten kein Rouge aufgelegt. Die einzige Lippenstiftfarbe im Zimmer war Tangee-Natural. Auf den Fingernägeln funkelte Cutex-Natural, nur einige jüngere Ladys hatten Cutex-Rosa verwendet. Sie dufteten himmlisch. Ich saß regungslos, die Hände um die Sessellehnen gekrampft, und wartete darauf, dass jemand mich ansprach.
Das Gold in Miss Maudies Zahnbrücke blinkte. „Du hast dich heute ja mächtig fein gemacht, Miss Jean Louise“, sagte sie. „Wo sind denn deine Hosen?“
„Unter meinem Kleid.“
Das sollte kein Witz sein, aber die Ladys lachten. Meine Wangen brannten wie Feuer, als ich merkte, was mir passiert war. Miss Maudie verzog keine Miene. Sie lachte nie über mich, wenn ich unabsichtlich komisch war.
In das plötzlich eintretende Schweigen hinein rief mir Miss Stephanie quer durch den Raum zu: „Was willst du eigentlich werden, wenn du groß bist, Jean Louise? Vielleicht Rechtsanwalt?“
„Ich weiß nicht, Miss Stephanie, ich hab’s mir noch nicht überlegt …“, antwortete ich und war Miss Stephanie für diesen Wechsel des Themas von Herzen dankbar. In aller Eile suchte ich nach einem Beruf, der mir zusagte. Krankenschwester? Pilotin? „Nun …“
„Oje, ich dachte, du wolltest Rechtsanwalt werden, weil du doch neuerdings so gern zu den Verhandlungen gehst.“
Die Ladys lachten wieder. „Diese Stephanie ist unbezahlbar“, rief jemand. Dadurch ermutigt, wiederholte Miss Stephanie ihre Frage: „Willst du wirklich nicht Rechtsanwalt werden, wenn du groß bist?“
Ich fühlte Miss Maudies Hand auf der meinen und brachte eine höfliche Antwort zustande. „Nein, Miss Stephanie, bloß eine Lady …“
Miss Stephanie beäugte mich argwöhnisch, kam zu dem Schluss, dass ich keine Unverschämtheit beabsichtigt hatte, und begnügte sich mit der Bemerkung: „Nun, dann sieh nur zu, dass du öfter als bisher Kleider trägst, sonst wirst du nicht weit kommen.“
Miss Maudies Hand schloss sich fest um meine Finger, und ich schwieg. Ihre Wärme genügte mir.
Da Mrs. Grace Merriweather zu meiner Linken saß, hielt ich es für meine Pflicht, mit ihr zu sprechen. Mr. Merriweather, ein eifriger, wenn auch keineswegs freiwilliger Kirchgänger, sah anscheinend nichts Persönliches in dem Lied, das er und die anderen Methodisten beim Gottesdienst sangen: „O Gnade Gottes, wunderbar hast du errettet mich …“In Maycomb war man jedoch allgemein der Ansicht,
dass seine Frau ihn zur Nüchternheit erzogen und einen einigermaßen nützlichen Bürger aus ihm gemacht hatte. Mrs. Merriweather war zweifellos die frömmste Dame weit und breit. Ich suchte nach einem passenden Gesprächsstoff. „Womit haben Sie sich denn heute Nachmittag beschäftigt?“, fragte ich.
„Ach, Kind, mit den armen Mrunas …“Und schon legte sie los. Weitere Fragen würden kaum mehr nötig sein. Wie immer, wenn sie der Unglücklichen und Unterdrückten gedachte, füllten sich ihre großen braunen Augen mit Tränen. „Stell dir vor, sie leben im Dschungel, und niemand kümmert sich um sie außer J. Grimes Everett. Kein Weißer will etwas mit ihnen zu tun haben. Nur J. Grimes Everett, dieser heilige Mann …“
Mrs. Merriweathers Stimme dröhnte wie Orgelklang. Jedes ihrer Worte kam voll zur Geltung. „Die Armut … die Finsternis … die Unsittlichkeit … niemand weiß darum, außer J. Grimes Everett. Erst kürzlich, als mir die Kirche den Aufenthalt im Missionslager ermöglichte, sagte J. Grimes Everett zu mir …“
„War er denn hier, Mrs. Merriweather? Ich dachte …“
„Er hatte Heimaturlaub. Also J. Grimes Everett sagte zu mir: ,Mrs. Merriweather‘, sagte er, ,Sie machen sich keinen Begriff, einfach keinen Begriff, gegen was wir dort zu kämpfen haben.‘ Das hat er zu mir gesagt.“
„Ja, Mrs. Merriweather.“
„Ich sagte zu ihm: ,Mr. Everett‘, habe ich gesagt, ,die Damen der Maycomb Alabama Methodist Episcopal Church South stehen hundertprozentig hinter Ihnen.‘ Das habe ich zu ihm gesagt … Und weißt du, gleichzeitig habe ich in meinem Herzen ein Gelübde abgelegt. Sobald ich heimkomme, sagte ich mir, werde ich Vorträge über die Mrunas halten und J. Grimes Everetts Botschaft in Maycomb verbreiten. Und das tue ich nun.“
„Ja, Mrs. Merriweather.“
Wenn Mrs. Merriweather den Kopf schüttelte, tanzten ihre schwarzen Locken hin und her. „Jean Louise“, fuhr sie fort, „du bist ein glückliches Mädchen. Du lebst in einem christlichen Heim mit christlichen Menschen in einer christlichen Stadt. Dort draußen aber, in J. Grimes Everetts Land, gibt es nichts als Sünde und Elend.“„Ja, Mrs. Merriweather.“
„Sünde und Elend … Wie meinst du, Gertrude?“Mrs. Merriweather schaltete ihre Stimme auf helles Glockengeläut, als sie sich ihrer Nachbarin zuwandte. „Ach, das … Nun, ich sage immer: Vergib und vergiss – vergib und vergiss. Die Kirche, der sie angehört, sollte ihr um der Kinder willen helfen, ein christliches Leben zu führen. Einige unserer Männer müssten zu ihrem Pfarrer gehen und ihn bitten, ihr Trost zu spenden.“