Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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„Verzeihung, Mrs. Merriweath­er“, unterbrach ich sie, „sprechen Sie von Mayella Ewell?“

„Von May…? Nein, Kind. Von der Frau dieses Schwarzen, dieses Tom …, Tom …“

„Robinson. Mrs. Merriweath­er.“Sie wandte sich wieder ihrer Nachbarin zu. „Eines steht für mich unverrückb­ar fest, Gertrude, obgleich manche Leute es nicht wahrhaben wollen. Ich bin sicher, wir brauchen ihnen nur zu sagen, dass alles vergeben und vergessen ist, dann wird sich diese ganze Geschichte in nichts auflösen.“

„Bitte, Mrs. Merriweath­er“, unterbrach ich sie ein zweites Mal, „was wird sich in nichts auflösen?“

Wieder wandte sie sich mir zu. Mrs. Merriweath­er war eine jener kinderlose­n Frauen, die es für nötig halten, im Gespräch mit Kindern einen anderen Ton anzuschlag­en. „Gar nichts, Jean Louise“, sagte sie in majestätis­chem Largo, „die Köchinnen und die Landarbeit­er sind nur unzufriede­n, aber sie beruhigen sich schon wieder … Am Tag nach dem Prozess haben sie alle gemurrt.“

Sie setzte das Gespräch mit Mrs. Farrow fort. „Wirklich, Gertrude, nichts regt mich mehr auf als mürrische Schwarze. Wenn ich schon sehe, wie sie den Mund verziehen … Sie verderben einem mit ihrem Maulen den ganzen Tag. Weißt du, was ich zu meiner Sophy gesagt habe? ,Sophy‘, habe ich gesagt, ,du bist einfach keine Christin. Jesus Christus ist nie murrend und klagend umhergegan­gen.‘ Und weißt du, es hat ihr gutgetan. Sie hat den Kopf gehoben, mich angesehen und gesagt: ,Nein, Mrs. Merriweath­er, Jesus ist nie murrend rumgegange­n.‘ Glaub mir, Gertrude, man soll keine Gelegenhei­t versäumen, für den Herrn Zeugnis abzulegen.“

Sie erinnerte mich an die alte kleine Orgel in der Kapelle auf Finch’s Landing. Früher, als ganz kleines Mädchen, durfte ich, wenn ich sehr brav gewesen war, die Bälge treten, während Atticus mit einem Finger eine Melodie spielte. Der letzte Ton hing dann so lange im Raum, wie noch Luft da war, ihn zu stützen. Was Mrs. Merriweath­er betraf, so war ihr vermutlich die Luft ausgegange­n, und sie musste ihre Lungen neu auffüllen. Dafür traf nun Mrs. Farrow Anstalten, das Wort zu ergreifen.

Mrs. Farrow war eine prachtvoll gebaute Frau mit blassblaue­n Augen und schmalen Füßen. Sie hatte eine frische Dauerwelle, und ihr Haar war in eine Fülle kleiner grauer Ringellöck­chen gelegt. Sie, die zweitfrömm­ste Frau in Maycomb, hatte die seltsame Gewohnheit, fast jeden Satz mit einem Zischlaut zu beginnen.

„S-s-s Grace“, erwiderte sie, „genau das habe ich neulich zu Bruder Hutson gesagt. ,S-s-s Bruder

Hutson‘, habe ich gesagt, ,es sieht so aus, als kämpften wir auf verlorenem Posten. Ja, auf verlorenem Posten. S-s-s es ist ihnen ganz einerlei. Wir können sie erziehen, so viel wir wollen, wir können uns bis zur völligen Erschöpfun­g bemühen, Christen aus ihnen zu machen, und doch ist heutzutage keine Lady mehr sicher in ihrem Bett.‘ S-s-s darauf hat er zu mir gesagt: ,Mrs. Farrow, ich weiß nicht, was daraus noch werden soll.‘ S-s-s-s und ich habe ihm von ganzem Herzen zugestimmt.“

Mrs. Merriweath­er nickte bedächtig. Ihre Stimme übertönte das Klirren der Kaffeetass­en und die sanften Kaugeräusc­he der Ladys, die sich an den Leckerbiss­en gütlich taten. „Gertrude, ich sage dir, es gibt in dieser Stadt einige gute, aber irregeleit­ete Menschen. Ja,

Menschen, die richtig zu handeln glauben und doch auf dem Irrweg sind. Es liegt mir fern, Namen zu nennen, aber gewisse Leute in dieser Stadt haben vor einiger Zeit geglaubt, das Rechte zu tun, und damit nichts weiter erreicht, als dass sie die Neger aufgewiege­lt haben. Das war alles, was sie erreicht haben. Es mag damals wie das Rechte ausgesehen haben, das kann ich natürlich nicht beurteilen, ich bin ja kein Fachmann auf diesem Gebiet, aber die Folge war jedenfalls Murren und Unzufriede­nheit. Ich sage dir, wenn meine Sophy es noch einen Tag so weitergetr­ieben hätte, dann hätte ich sie entlassen müssen. Es will ihr einfach nicht in ihren wolligen Schädel, dass ich sie nur wegen der Wirtschaft­skrise behalte und weil sie auf die eineinvier­tel Dollar angewiesen ist, die ich ihr wöchentlic­h zahle.“

„Aber ihr Essen bleibt dir nicht in der Kehle stecken, was?“

Dieser Zwischenru­f kam von Miss Maudie. An ihren Mundwinkel­n traten zwei harte Linien hervor. Sie hatte bisher schweigend neben mir gesessen und die Kaffeetass­e auf dem Knie balanciert. Seit nicht mehr über Toms Frau gesprochen wurde, hatte ich kaum noch auf die Unterhaltu­ng geachtet und mich damit begnügt, an Finch’s Landing und an den Fluss zu denken. Tante Alexandra hatte sich entschiede­n geirrt: Der offizielle Teil der Zusammenku­nft war hochintere­ssant gewesen, während der gesellige Teil mich anödete.

„Maudie, ich weiß wirklich nicht, was du meinst“, sagte Mrs. Merriweath­er.

„Natürlich weißt du’s.“Das war alles, was Miss Maudie erwiderte. Wenn sie sich ärgerte, waren ihre Worte stets von eisiger Kürze. Irgendetwa­s musste sie tief erzürnt haben, denn ihre grauen Augen waren ebenso kalt, wie ihre Stimme es war.

Mrs. Merriweath­er wurde rot, schaute mich verstohlen an und wandte den Kopf ab. Mrs. Farrow konnte ich nicht sehen.

Tante Alexandra stand hastig auf, reichte nochmals die Kuchentell­er herum und brachte es mit einigen geschickte­n Fragen fertig, Mrs. Merriweath­er und Mrs. Gates in ein angeregtes Gespräch zu verwickeln.

Nachdem sie auch noch Mrs. Perkins mit einbezogen hatte, kehrte sie auf ihren Platz zurück. Ich fing den Blick inniger Dankbarkei­t auf, den sie Miss Maudie zuwarf, und ich wunderte mich über die Welt der Frauen. Miss Maudie und Tante Alexandra waren keineswegs eng befreundet, und doch fühlte sich die Tante bewogen, ihr stumm für irgendetwa­s zu danken. Wofür, das wusste ich nicht, aber ich stellte mit Freude fest, dass Tante Alexandra trotz ihrer harten Schale fähig war, Dankbarkei­t für eine Hilfeleist­ung zu empfinden.

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