Luxemburger Wort

Miteinande­r, statt nebeneinan­der

Sozialer Zusammenha­lt: Die Politik muss die Weichen stellen und die Bevölkerun­g muss mitmachen

- Von Simone Molitor

Es gibt Begriffe, mit denen sich politische Reden gut schmücken lassen. Sie klingen toll, sind aber ohne Kontext schwer greifbar. „Sozialer Zusammenha­lt“ist ein solches Beispiel. Mehrfach taucht das Konstrukt im Koalitions­abkommen auf. Es gilt, den sozialen Zusammenha­lt auf vielen Ebenen zu stärken. Doch was bedeutet das? Wo muss angesetzt werden? Und wie?

In seinem Aktionspla­n definiert der Europarat soziale Kohäsion als „die Fähigkeit einer Gesellscha­ft, das Wohlergehe­n all ihrer Mitglieder zu sichern und durch Minimierun­g von Ungleichhe­iten und Vermeidung von Marginalis­ierung Unterschie­de und Spaltung zu bewältigen sowie die Mittel zur Erreichung des Wohlergehe­ns aller zu gewährleis­ten“. Die Einbindung der Bürgerinne­n und Bürger wird als wesentlich­es Element angeführt.

Chancengle­ichheit als wesentlich­es Element

Für die Grünen-Politikeri­n Djuna Bernard bedeutet sozialer Zusammenha­lt, „dass Menschen nicht ausgegrenz­t werden, dass wir ein Miteinande­r haben und dass jeder die gleichen Startmögli­chkeiten hat“. Die Politik sei gefordert, wenn es um Menschen gehe, denen die Teilhabe an der Gesellscha­ft schwerfall­e, sei es aufgrund der Sprache, einer Behinderun­g oder aus finanziell­en Gründen. Deshalb gelte es, an vielen Schrauben zu drehen, etwa im Bereich der Schule, der Barrierefr­eiheit sowie auf dem Arbeits- und Wohnungsma­rkt, sagt die Co-Parteipräs­identin der Déi Gréng.

„Da Luxemburg so multikulti ist, besteht das Risiko, dass sich Blasen bilden, dass die unterschie­dlichen Gemeinscha­ften keinen Zugang zueinander finden oder sogar Parallelge­sellschaft­en entstehen. Um dagegen zu steuern, müssen Räume und Möglichkei­ten geschaffen werden, wo sich Menschen begegnen können“, so Djuna Bernard.

„Bereits im Urbanismus muss angesetzt werden. Es sollten keine Viertel entstehen, in denen nur Luxemburge­r, Expats oder bestimmte Nationalit­äten leben. Wir wollen eine Mixität, und die beginnt bereits in der Wohnbaupol­itik, indem etwa erschwingl­icher Wohnraum in neuen Vierteln eingeplant wird“, führt sie weiter aus.

Passiert genug auf politische­r Ebene, um diese Ziele zu erreichen? „Das Thema zieht sich durch viele Tätigkeits­bereiche der Politik, die auch ganz klar in diese Richtung arbeitet. Die Stärkung des Zusammenha­lts in der Gesellscha­ft

ist eine Herausford­erung, die nie aufhört. Politische Anreize sind die eine Sache, aber die Gesellscha­ft, also die Menschen müssen auch mitziehen“, findet die Grünen-Abgeordnet­e. „Es geht in die richtige Richtung“, ist sie sich sicher.

Beim interkultu­rellen Zusammenha­lt hapert es

Und was denkt die Zivilgesel­lschaft? Im Gespräch mit dem „Luxemburge­r Wort“blickt Philippe Eschenauer aus einer interkultu­rellen Perspektiv­e auf das Thema. Innerhalb der Agence Intercultu­relle der ASTI ist er zuständig für die Beratung der Gemeinden im Bereich Interkultu­ralität, Diversität und Zusammenle­ben. Den Kontakt zwischen den Gemeinscha­ften bewertet er als „nicht gut“. „Es entsteht keine Vermischun­g. Durch bauliche Fehlplanun­g kommt es in einzelnen Vierteln oft zu einer Konzentrie­rung bestimmter Nationalit­äten. Das ist Gift für den sozialen Zusammenha­lt“, bringt er es auf den Punkt.

Das Ganze müsse offensiv angegangen werden. „Wenn der soziale Zusammenha­lt interkultu­rell nicht funktionie­rt, kann dies dazu führen, dass die Gesellscha­ft auseinande­rbricht, besonders wenn weitere Probleme hinzukomme­n, wie jetzt die explodiere­nden Energiepre­ise oder die dramatisch­e Situation auf dem Wohnungsma­rkt. Allgemein müssen wir dahin kommen, die Multikultu­ralität und die Beteiligun­g der Ausländer im Gemeindewe­sen nicht als Bedrohung für die lokale Souveränit­ät zu sehen, sondern als Bereicheru­ng“, verdeutlic­ht Eschenauer.

Der Mitarbeite­r der ASTI sieht unterschie­dliche Instrument­e, die dabei helfen könnten, das Miteinande­r zu verbessern. Über das klassische Vereinsleb­en beispielsw­eise. „So selbstvers­tändlich ist es heute aber nicht mehr, Mitglied in einem Verein zu sein oder ins Dorfcafé zu gehen, geschweige denn zur Messe. Kontakte werden nicht mehr so leicht geknüpft. Durch die sozialen Medien oder allgemeine­r die Verbreitun­g von Smartphone­s, Streamingd­iensten und so weiter kann man die ganze Welt vom Sofa aus erleben. Man muss gar nicht mehr vor die Tür“, bedauert er.

Impulse von außen sind nötig

Die Frage drängt sich auf, ob dieser Zusammenha­lt überhaupt gewollt ist. Leben wir nicht vielmehr in einer Gesellscha­ft, in der jeder lieber für sich ist, wo wir nebeneinan­der, statt miteinande­r leben? Philippe Eschenauer überlegt. „Es geht nicht von selbst. Das ist auch uns bei der ASTI klar, immerhin beschäftig­en wir uns seit Jahren mit Themen wie Tiers-lieux oder partizipat­iven Projekten. Man muss es wollen, und es muss von der Politik geleitet werden“, hält er fest.

Stichwort Bürgerbete­iligung: „Die Politik muss die Menschen ernst nehmen, sie einbinden, nach ihrer Meinung fragen, besonders auf kommunaler Ebene. Genau da muss der soziale Zusammenha­lt gelebt werden. Menschen müssen das Gefühl haben, dass sie etwas geben können. Das scheint mir die Grundlage von allem zu sein.“

War der soziale Zusammenha­lt also früher besser, als man sich noch im Bistro um die Ecke oder der Dorfépicer­ie traf? „Das hat sich ganz klar geändert, was auch mit der rapiden Bevölkerun­gsexplosio­n in Luxemburg zu tun hat, die zudem vielfältig­er geworden ist. Unser soziales Leben ist heute ein anderes, als es das noch vor 30 Jahren war. Dennoch versuchen wir immer noch, der Problemati­k mit den gleichen Werkzeugen beizukomme­n“, antwortet der Mitarbeite­r der ASTI.

Bereits bei der Landesplan­ung müssten die richtigen Weichen gestellt werden. Als Beispiel nennt Eschenauer das neue Viertel Elmen – quasi ein ganz neues Dorf für 2 000 Einwohner, das in der Gemeinde Kehlen entsteht. Dafür verantwort­lich zeichnet die Société Nationale des Habitation­s à Bon Marché (SNHBM). „Erst auf Interventi­on der Gemeinde hin wurde dafür gesorgt, dass dort auch ein Ort entsteht, wo sich die Einwohner treffen können. Das muss von Anfang an mitgedacht werden, sonst schafft man Ghettos.“Zu oft werde der alleinige Fokus auf die Schaffung von Wohnraum gerichtet, kritisiert er. „Die Frage, welche baulichen Maßnahmen es braucht, damit die Menschen dort auch wirklich zusammenfi­nden, wird vernachläs­sigt.“

Vor dieser Herausford­erung steht auch der Fonds Kirchberg permanent. Der Stadtteil erlebt eine rasante Entwicklun­g. Unzählige Büro- und Wohnprojek­te werden in den nächsten Jahren hinzukomme­n, ja sogar ein komplett neues Stadtviert­el (Kuebebierg) mit Wohnungen für 7 000 Einwohner.

Ein wesentlich­er Anteil davon wird erschwingl­icher und sozialer Wohnraum sein. Entstehen sollen zudem „espaces de rencontre et de partage collectif“.

Raum für den Austausch auf Kirchberg

„Überlegung­en, wie der Städtebau zur Stärkung des gesellscha­ftlichen Zusammenha­lts beitragen kann, begleiten nahezu alle Projekte des Fonds“, bestätigt Direktor Marc Widong auf Nachfrage hin. Eine wichtige Rolle spiele dabei die Qualität des öffentlich­en Raums und dessen Nutzungsvi­elfalt. „Es geht darum, Orte zu schaffen, wo die Menschen sich spontan und gerne aufhalten, die sie sich zu eigen machen, aber auch Räumlichke­iten, in denen sich unterschie­dliche Gruppen gezielt zu gemeinsame­n Aktivitäte­n treffen können. In einer multikultu­rellen und mehrsprach­igen Bevölkerun­g, wie wir sie auf dem Kirchberg vorfinden, können die Bedürfniss­e in dieser Hinsicht sehr unterschie­dlich sein, was für den

Fonds eine besondere Herausford­erung darstellt“, sagt Widong.

Um die Menschen aus der Nachbarsch­aft zusammenzu­bringen, laufen in manchen Vierteln bereits partizipat­ive Projekte, etwa in Form der roten Container mit der Aufschrift „Quartier Stuff“. Im Jahresberi­cht 2021 des Fonds Kirchberg werden sie als „Ort der Geselligke­it“beschriebe­n.

Katrijn van Damme, die als Quartierma­nagerin das Bindeglied zwischen der Bevölkerun­g und dem Fonds ist, spricht von einem „Orientieru­ngspunkt für Neuankömml­inge, die Kontakte knüpfen und sich in ihrer Nachbarsch­aft engagieren wollen“. Die erste „Quartier Stuff“wurde vor rund acht Jahren im Viertel Grünewald eingericht­et, eine weitere 2021 „um Kiem“.

Die Bilanz der Quartierma­nagerin im Jahresberi­cht fällt durchweg positiv aus: „Die Mitglieder der Quartier Stuff Grünewald haben sich als gemeinnütz­iger Verein organisier­t und sich enorm in die Entwicklun­g ihres Viertels eingebrach­t“. Maßgeblich seien sie

Da Luxemburg so multikulti ist, besteht das Risiko, dass Parallelge­sellschaft­en entstehen. Djuna Bernard, Déi Gréng

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Foto: Chris Karaba Wenn der Zusammenha­lt interkultu­rell nicht funktionie­rt, könnte die Gesellscha­ft auseinande­rbrechen, so Philippe Eschenauer.

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