Putins zweite Front
In Russland gilt es als offenes Geheimnis, dass Gazprom Europa den Gashahn früher oder später ganz zudrehen wird
Ein Techniker im Gazprom-Anorak stapft durch den Schnee. „Aber der Winter“, singt eine Jungfrauenstimme gedehnt-melodisch, „wird groß.“Ein Mitarbeiter von Gazprom legt einen Schalter um, ein Gasdruckmesser sinkt auf null, wird von einer Schneewolke verhüllt, weißer Frost senkt sich über eine Großstadt, eine EU-Flagge weht im Wind, dann eine Gasfackel, Windräder und eine Solaranlage erscheinen. Dann erlöschen die Flammen einer Gasheizung. Paris, große und kleine europäische Städte tauchen auf, dann wieder sibirische Frostwolken, die über dem verschneiten Krasnojarsk gefilmt worden sind. „Langsam stirbt der Herbst, winkt mit gelber Hand“, die junge Sängerin klingt traurig.
Der knapp zweiminütige Videoclip über den Erfrierungstod Europas kursiert seit Tagen im russischen Internet, nach Angaben des Portals „fontana.ru“hat ihn der Petersburger Fernsehjournalist Artur Chodyrew montiert, der vorher Gasindustrie-Reportagen für den staatlichen Kanal Rossija 24 drehte. Unklar, wer den lyrischen, zweiminütigen Film in Auftrag gegeben hat. Aber das Militärfachblatt „Wojennoje Obosrenije“versichert: „Das Video, das Gazprom herausgegeben hat, wird vor allem in der Ukraine und dem Westen diskutiert.“
Lieferstopp wegen technischer Probleme
Russische Offizielle behaupten, der Lieferstopp durch die Nord Stream 1-Pipeline sei durch technische Probleme bedingt, die der Westen mit seinen Sanktionen selbst verursacht habe. Laut Gazprom wurden an einem Pumpaggregat in einer Kompressor-Station mehrere Öllecks entdeckt, angeblich deshalb kann Nord Stream 1 seit dem zweiten September kein Gas mehr transportieren. Das sind etwa 33 Millionen Kubikmeter weniger am Tag, seitdem fließen nur noch bis zu 85 Millionen Kubikmeter durch die Ukraine und die Türkei Richtung Europa. In früheren Jahren strömten noch über 420 Millionen Kubikmeter russisches Gas täglich nach Europa, bis zu 167 Millionen davon durch Nord Stream 1.
Und in Russland gilt es längst als offenes Geheimnis, dass hinter den sich häufenden Meldungen von kaputten Generatoren und Aggregaten der politische Wille steht, Europa den Gashahn abzudrehen. „Natürlich möchte man Druck auf die europäischen Staaten und Konzerne ausüben“, erklärt Iwan Rodionow,
Wirtschaftsexperte der Moskauer Hochschule für Wissenschaft. Obwohl er sicher ist, dass die undurchschaubaren westlichen Sanktionsregeln Gazprom an der Wiederinbetriebnahme einer in Kanada reparierten Turbine hindern. Aber der Rohstoffexperte Michail Krutichin verweist darauf, dass vier andere Turbinen der betroffenen Station unbeschädigt stillstehen. „Ganz offensichtlich will man die Europäer glauben machen, dass sie ohne die Gnade Gazproms im Winter erfrieren. Und mit dieser Musik will man versuchen, die Sanktionen aufzuweichen, wenn nicht gar beseitigen.“
Wladimir Putin selbst verkündete unlängst in Wladiwostok:
„Uns bleibt nur noch die Beschwörungsformel aus dem bekannten russischen Märchen: ,Friere, friere, Wolfsschwanz!’“Mit anderen Worten: Europa werde es gehen wie dem dummen Märchen-Wolf, der seinen Schwanz in ein Eisloch gesteckt hat, um Fische zu fangen. Und sein Schwanz friert fest …
Sanktionskrieg in vollem Gange
Putin spottete damit namentlich über die Pläne der EU, nach dem beschlossenen Preisdeckel für russisches Öl auch für russisches Gas künftig einen Niedrigpreis festzuschreiben. Wenn jemand versuche, Russland etwas aufzuzwingen, werde es ihm weder Gas, noch Öl, noch Kohle liefern. Der Sanktionskrieg ist im vollen Gang.
So wie der Westen Russlands Wirtschaftskraft schmälern, Unzufriedenheit und Kriegsmüdigkeit im Land steigern möchte, versucht Russland, in Europa Stimmung gegen die moralische und militärische Unterstützung der Ukraine zu machen. Im Idealfall könnten dort Straßenunruhen ausbrechen und prorussische Rechtspopulisten mehrheitsfähig werden.
Aber das Fenster für die wirtschaftliche Gegenoffensive des Kremls ist räumlich und zeitlich eng. Alternativen Abnehmern wie
China mangelt es an Bedarf, laut „Financial Times“verkauft es russisches Billiggas sogar schon an den Westen weiter. Und Putins erklärter Hauptfeind USA ist weder mit Öl noch Gas unter Druck zu setzen, der größte Waffenlieferant der Ukraine wird ihr auch weiter die Stange halten. Bleiben nur Europa und nur der kommende Winter. Schon ein Jahr später dürfte selbst „Nord Stream-Deutschland“andere Gaslieferanten haben.
Das neue russische Tieffrost-Video endet siegreich, mit der über den Wolken schwebenden Turmspitze des Gazprom-Hauptquartiers in Sankt Petersburg und den Worten: „Aber der Winter wird groß. Es gibt nur Abenddämmerung und Schnee.“Allerdings hat man wesentliche Verse der Ballade herausgeschnitten: „Es weint Großväterchen Arbat, es weint das blaue Russland, verwandelt in fallende Blätter.“
Auch russische Sängerinnen finden den eigenen Winter entschieden zu kalt. Mitteleuropa dagegen wird von Dezember bis Februar wohl kaum blau frieren. Die amerikanische Wetterbehörde National Oceanic and Atmospheric Administration prognostiziert in Westeuropa 0,15 bis zwei Grad wärmere Durchschnittstemperaturen als im langjährigen Klimamittel.
Ganz offensichtlich will man die Europäer glauben machen, dass sie ohne die Gnade Gazproms im Winter erfrieren. Rohstoffexperte Michail Krutichin