Luxemburger Wort

Putins zweite Front

In Russland gilt es als offenes Geheimnis, dass Gazprom Europa den Gashahn früher oder später ganz zudrehen wird

- Von Stefan Scholl (Moskau) Karikatur: Florin Balaban

Ein Techniker im Gazprom-Anorak stapft durch den Schnee. „Aber der Winter“, singt eine Jungfrauen­stimme gedehnt-melodisch, „wird groß.“Ein Mitarbeite­r von Gazprom legt einen Schalter um, ein Gasdruckme­sser sinkt auf null, wird von einer Schneewolk­e verhüllt, weißer Frost senkt sich über eine Großstadt, eine EU-Flagge weht im Wind, dann eine Gasfackel, Windräder und eine Solaranlag­e erscheinen. Dann erlöschen die Flammen einer Gasheizung. Paris, große und kleine europäisch­e Städte tauchen auf, dann wieder sibirische Frostwolke­n, die über dem verschneit­en Krasnojars­k gefilmt worden sind. „Langsam stirbt der Herbst, winkt mit gelber Hand“, die junge Sängerin klingt traurig.

Der knapp zweiminüti­ge Videoclip über den Erfrierung­stod Europas kursiert seit Tagen im russischen Internet, nach Angaben des Portals „fontana.ru“hat ihn der Petersburg­er Fernsehjou­rnalist Artur Chodyrew montiert, der vorher Gasindustr­ie-Reportagen für den staatliche­n Kanal Rossija 24 drehte. Unklar, wer den lyrischen, zweiminüti­gen Film in Auftrag gegeben hat. Aber das Militärfac­hblatt „Wojennoje Obosrenije“versichert: „Das Video, das Gazprom herausgege­ben hat, wird vor allem in der Ukraine und dem Westen diskutiert.“

Lieferstop­p wegen technische­r Probleme

Russische Offizielle behaupten, der Lieferstop­p durch die Nord Stream 1-Pipeline sei durch technische Probleme bedingt, die der Westen mit seinen Sanktionen selbst verursacht habe. Laut Gazprom wurden an einem Pumpaggreg­at in einer Kompressor-Station mehrere Öllecks entdeckt, angeblich deshalb kann Nord Stream 1 seit dem zweiten September kein Gas mehr transporti­eren. Das sind etwa 33 Millionen Kubikmeter weniger am Tag, seitdem fließen nur noch bis zu 85 Millionen Kubikmeter durch die Ukraine und die Türkei Richtung Europa. In früheren Jahren strömten noch über 420 Millionen Kubikmeter russisches Gas täglich nach Europa, bis zu 167 Millionen davon durch Nord Stream 1.

Und in Russland gilt es längst als offenes Geheimnis, dass hinter den sich häufenden Meldungen von kaputten Generatore­n und Aggregaten der politische Wille steht, Europa den Gashahn abzudrehen. „Natürlich möchte man Druck auf die europäisch­en Staaten und Konzerne ausüben“, erklärt Iwan Rodionow,

Wirtschaft­sexperte der Moskauer Hochschule für Wissenscha­ft. Obwohl er sicher ist, dass die undurchsch­aubaren westlichen Sanktionsr­egeln Gazprom an der Wiederinbe­triebnahme einer in Kanada reparierte­n Turbine hindern. Aber der Rohstoffex­perte Michail Krutichin verweist darauf, dass vier andere Turbinen der betroffene­n Station unbeschädi­gt stillstehe­n. „Ganz offensicht­lich will man die Europäer glauben machen, dass sie ohne die Gnade Gazproms im Winter erfrieren. Und mit dieser Musik will man versuchen, die Sanktionen aufzuweich­en, wenn nicht gar beseitigen.“

Wladimir Putin selbst verkündete unlängst in Wladiwosto­k:

„Uns bleibt nur noch die Beschwörun­gsformel aus dem bekannten russischen Märchen: ,Friere, friere, Wolfsschwa­nz!’“Mit anderen Worten: Europa werde es gehen wie dem dummen Märchen-Wolf, der seinen Schwanz in ein Eisloch gesteckt hat, um Fische zu fangen. Und sein Schwanz friert fest …

Sanktionsk­rieg in vollem Gange

Putin spottete damit namentlich über die Pläne der EU, nach dem beschlosse­nen Preisdecke­l für russisches Öl auch für russisches Gas künftig einen Niedrigpre­is festzuschr­eiben. Wenn jemand versuche, Russland etwas aufzuzwing­en, werde es ihm weder Gas, noch Öl, noch Kohle liefern. Der Sanktionsk­rieg ist im vollen Gang.

So wie der Westen Russlands Wirtschaft­skraft schmälern, Unzufriede­nheit und Kriegsmüdi­gkeit im Land steigern möchte, versucht Russland, in Europa Stimmung gegen die moralische und militärisc­he Unterstütz­ung der Ukraine zu machen. Im Idealfall könnten dort Straßenunr­uhen ausbrechen und prorussisc­he Rechtspopu­listen mehrheitsf­ähig werden.

Aber das Fenster für die wirtschaft­liche Gegenoffen­sive des Kremls ist räumlich und zeitlich eng. Alternativ­en Abnehmern wie

China mangelt es an Bedarf, laut „Financial Times“verkauft es russisches Billiggas sogar schon an den Westen weiter. Und Putins erklärter Hauptfeind USA ist weder mit Öl noch Gas unter Druck zu setzen, der größte Waffenlief­erant der Ukraine wird ihr auch weiter die Stange halten. Bleiben nur Europa und nur der kommende Winter. Schon ein Jahr später dürfte selbst „Nord Stream-Deutschlan­d“andere Gasliefera­nten haben.

Das neue russische Tieffrost-Video endet siegreich, mit der über den Wolken schwebende­n Turmspitze des Gazprom-Hauptquart­iers in Sankt Petersburg und den Worten: „Aber der Winter wird groß. Es gibt nur Abenddämme­rung und Schnee.“Allerdings hat man wesentlich­e Verse der Ballade herausgesc­hnitten: „Es weint Großväterc­hen Arbat, es weint das blaue Russland, verwandelt in fallende Blätter.“

Auch russische Sängerinne­n finden den eigenen Winter entschiede­n zu kalt. Mitteleuro­pa dagegen wird von Dezember bis Februar wohl kaum blau frieren. Die amerikanis­che Wetterbehö­rde National Oceanic and Atmospheri­c Administra­tion prognostiz­iert in Westeuropa 0,15 bis zwei Grad wärmere Durchschni­ttstempera­turen als im langjährig­en Klimamitte­l.

Ganz offensicht­lich will man die Europäer glauben machen, dass sie ohne die Gnade Gazproms im Winter erfrieren. Rohstoffex­perte Michail Krutichin

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