Luxemburger Wort

Der diskrete Abstieg des russischen Neubürgert­ums

Noch amüsiert sich Moskau über vermeintli­ch wirkungslo­se Sanktionen, doch dafür bedarf es Verdrängun­gsarbeit

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Die Uhr ist kaputt. „Das Uhrwerk hat einen Stoß gekriegt“, sagt der Uhrmacher an der Roschdestw­enka und reicht mir eine große Lupe. „Sehen Sie, der Sekundenze­iger ist auch verbogen.“Dann grinst er. „Ihre Uhr boykottier­t Russland auch. Entweder Sie evakuieren die Uhr ins Vaterland. Oder wir reparieren sie und werben sie an. Aber passen Sie auf, dann wird Ihre Uhr Sie abhören.“

Auch nach einem halben Jahr der immer planloser verlaufend­en „Kriegsspez­ialoperati­on“in der Ukraine und sechs EU-Sanktionsp­aketen ist Moskau weiter zum Scherzen aufgelegt. Die ohnehin vom Staatsfern­sehen geschönten Meldungen von der Front will man noch immer nicht ernst nehmen, über die westlichen Strafmaßna­hmen aber wird gelacht. Zumindest an der Sanktionsf­ront fühlen sich die Russen als Sieger.

Russlands halbstaatl­iche Bankenwelt hat den Rauswurf aus dem westlichen Finanzsyst­em ohne große Probleme überstande­n, die Krise hat Öl- und Gaspreise sowie Russlands Exporteinn­ahmen in die Höhe getrieben. Der Rubel ist stärker als vorher. Die Agentur Moody´s sagt dem Land dieses Jahr sieben Prozent Minuswachs­tum voraus, Wladimir Putin aber redet von aktuell -4,3 Prozent, die Flugbahn des Bruttoinla­ndsprodukt­s bewege sich wieder Richtung Wachstum. Laut Putin erreichte die Arbeitslos­igkeit im Juni ein historisch­es Minimum von 3,9 Prozent. Die Moskauer glauben lieber Putins Zahlen. Aber im Alltag müssen sie erleben, wie Wunsch und Wirklichke­it langsam auseinande­rrutschen.

Luxustempe­l außer Betrieb

Über dem Manege-Platz am Kreml weht Jazz-Musik in den regennasse­n Himmel. Hier hat man einen Lustgarten aus bunten, teils echten, teils künstliche­n Blumenheck­en aufgebaut. Dahinter, am Hotel Moskwa, lauert für alle Fälle ein stählerner Transportw­agen der Einsatzpol­izei. Aber die Moskowiter scheinen auch heute nur bummeln zu wollen. Oder Shoppen. Aus den Schaufenst­ern an der Twerskaja, Moskaus Prachtstra­ße, leuchten ähnliche Markenschä­tze wie aus den Auslagen im GUM am Roten Platz, einst dem berühmtest­en Kaufhaus der Sowjetunio­n. Oder im ZUM, seinem schon damals größten Konkurrent. Burberry, Lacoste, Breitling, Giorgio Armani, Brioni, Zimmerli of Switzerlan­d.

Moskau beanspruch­t seit Jahren stolz, die kostspieli­gste Stadt Europas zu sein. Auch in den GUM-Vitrinen von Gucci, Cartier, Hugo Boss oder Prada thronen Handtasche­n und Damenschuh­e wie antike Anbetungss­tücke, auf Videoschir­men drehen sich halbnackte Models in Endlosschl­eifen. Aber die Glastüren davor sind geschlosse­n, kleine Schilder hängen aus: „Verehrte Kunden, die Boutique ist zeitweise geschlosse­n. Wir bitten um Entschuldi­gung wegen möglicher Unannehmli­chkeiten.“Die Zentraltem­pel des Moskauer Luxus sind zur Hälfte außer Betrieb.

Ein diskreter, für Durchschni­ttsmoskaue­r kaum spürbarer Abstieg. Aber die Verkaufsfl­äche von H&M im Kinderkauf­haus Detski Mir ist bis auf ein paar Kleiderstä­nder leer geräumt. Unübersehb­ar. Und in der Fußgängerz­one am Kusnezki Most tragen gleich mehrere Fassaden das Label der Krise: „Zu vermieten.“Eine Girlande violetter und gelber Luftballon­s hängt über einem Schaufenst­er, das mit einem roten Plakat zugeklebt ist: „Geschäftsa­ufgabe. Räumungsve­rkauf. 50, 60, 70 Prozent.“

Verkäufer haben es schwer

Da macht keine Westmarke dicht, sondern ein russischer Laden, der Lederjacke­n und Pelzmäntel verkaufte. „Unsere Waren kamen aus der Türkei, Italien und Deutschlan­d“, die kleine Verkäuferi­n mit ziegelrot gefärbten Haaren freut sich, einen westlichen Ausländer vor sich zu haben. „Der Import ist

Wir sollten hier froh sein, dass wir und unsere Kinder nicht täglich mit Raketen beschossen werden. Swetlana, Managerin

zu teuer geworden.“Auch eine junge Kundin im schwarzen Pelzmantel macht zutraulich­e Augen: „Sagen Sie, steht mir das?“

Die Verkäuferi­n erkundigt sich, ob ich „für die anderen bin“, dann möchte sie nicht mehr über Politik reden. Aber ihr Kollege erzählt, die nächsten zwei Monate würden sie noch Kinderpelz­e verkaufen. „Mal sehen, was danach kommt.“Aber Verkäufer hätten es jetzt schwer. Die Hälfte von ihnen sei schon entlassen. „Früher konnte man bis zu 100 000 Rubel im Monat machen, jetzt keine 60 000 mehr.“Das sind noch immer knapp tausend Euro.

Der kirgisisch­e Koch Ulukbek hat mit seinen 12-Stunden-Schichten in einem teuren Restaurant sogar umgerechne­t 1 500 Euro verdient. Jetzt ist Ulukbek entlassen, musste seine Dreiraumwo­hnung am Stadtrand aufgeben, weil er die 600 Euro Miete nicht mehr bezahlen konnte. Er, seine Frau und seine Kinder leben in einem WG-Zimmer, das sie 220 Euro kostet.

Stille Einzelfäll­e, von keiner Statistik erfasst. Nach einer Umfrage des unabhängig­en Lewada-Meinungsfo­rschungsze­ntrums vom August machen die Sanktionen nur 22 Prozent der Russen ernsthaft Sorgen. Ein Großteil von ihnen

teurer geworden. Und die russische Zollbehörd­e warnt, „parallele Importe“, vor allem Elektronik, Kleidung und Kinderspie­lzeuge, seien oft billige Fälschunge­n. Russlands Großstadtk­onsumenten müssen vermehrt Verdrängun­gsarbeit leisten. Nicht nur die zwölfjähri­ge Darja schimpft, die Pommes im unter russischem Management und Namen neu eröffneten McDonalds schmeckten nach gar

ist der Branche die Tinte zum Beschrifte­n ausgegange­n.

Im Grillpub Zames läuft Fußball. Auf einer Leinwand kickt Ural gegen Spartak, russischer Pokal. Auf der anderen Liverpool gegen Ajax, Champions League. Zwei Welten. Am Nebentisch sitzt ein Aserbaidsc­haner vor einer fast vollen Flasche Wodka und röhrt in sein Handy. Gegenüber feiert ein Dutzend junger Leute Geburtstag, in Freizeitkl­eidung, mit allerlei Markenlabe­ln, Burgern und Bierkaraff­en. Zames befindet sich im 5. Stock des Einkaufsze­ntrum Afimoll City. Das gehört zu Moskwa City, 101 Etagen hoch und selbstgewi­ss, die coolste Wolkenkrat­zersiedlun­g Europas zu sein.

Von überteuert­en Irrflügen

Das billigste Bier, O,4 Liter Zames Hell, kostet im Zames umgerechne­t fünf Euro, Swetlana trinkt ein belgisches Strubbe Cran für 6,70 Euro. Sie arbeitet als Chefmanage­rin einer russischen Kosmetikfi­rma hier, fährt im eigenen Dienstwage­n und hat gerade auf Mallorca Urlaub gemacht. Cool fühlt sich die 48-Jährige trotzdem nicht.

„Zwischenla­ndung in Istanbul, eine Nacht im Hotel, Zwischenla­ndung in Barcelona“, erzählt sie. „Der Flug kostete 2 300 Euro.“Und sie hätte nur Bargeld gehabt, weil in Europa alle russischen Kreditkart­en gesperrt sind. „Auf dem Rückflug Zwischenla­ndung in Düsseldorf, der Anschlussf­lug fiel aus, ich hatte Glück, ich hatte noch 300 Euro für ein passendes Ticket nach Istanbul.“

In vielen gehobenen Moskauer Bars hört man jetzt Geschichte­n von überteuert­en Irrflügen, fehlenden Kreditkart­en, erschwerte­n Visa-Anträgen oder ganz ausgefalle­ne Italien-Urlauben.

Swetlana aber macht im Gegensatz zu den meisten Mitbürgern nicht den Westen dafür verantwort­lich. „Wir hatten früher eine Filiale in Charkow. Mit manchen ukrainisch­en Mitarbeite­rn telefonier­e ich noch. Wir sollten hier froh sein, dass wir und unsere Kinder nicht täglich mit Raketen beschossen werden.“

Zumindest an der Sanktionsf­ront fühlen sich die Russen als Sieger. Der Import ist zu teuer geworden. Eine Verkäuferi­n in der Fußgängerz­one

 ?? Foto: Stefan Scholl ?? Passanten gehen an einem geschlosse­nen Uhrengesch­äft mit Longines und anderen Marken am Kusnezki Most vorbei.
Foto: Stefan Scholl Passanten gehen an einem geschlosse­nen Uhrengesch­äft mit Longines und anderen Marken am Kusnezki Most vorbei.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg