Der diskrete Abstieg des russischen Neubürgertums
Noch amüsiert sich Moskau über vermeintlich wirkungslose Sanktionen, doch dafür bedarf es Verdrängungsarbeit
Die Uhr ist kaputt. „Das Uhrwerk hat einen Stoß gekriegt“, sagt der Uhrmacher an der Roschdestwenka und reicht mir eine große Lupe. „Sehen Sie, der Sekundenzeiger ist auch verbogen.“Dann grinst er. „Ihre Uhr boykottiert Russland auch. Entweder Sie evakuieren die Uhr ins Vaterland. Oder wir reparieren sie und werben sie an. Aber passen Sie auf, dann wird Ihre Uhr Sie abhören.“
Auch nach einem halben Jahr der immer planloser verlaufenden „Kriegsspezialoperation“in der Ukraine und sechs EU-Sanktionspaketen ist Moskau weiter zum Scherzen aufgelegt. Die ohnehin vom Staatsfernsehen geschönten Meldungen von der Front will man noch immer nicht ernst nehmen, über die westlichen Strafmaßnahmen aber wird gelacht. Zumindest an der Sanktionsfront fühlen sich die Russen als Sieger.
Russlands halbstaatliche Bankenwelt hat den Rauswurf aus dem westlichen Finanzsystem ohne große Probleme überstanden, die Krise hat Öl- und Gaspreise sowie Russlands Exporteinnahmen in die Höhe getrieben. Der Rubel ist stärker als vorher. Die Agentur Moody´s sagt dem Land dieses Jahr sieben Prozent Minuswachstum voraus, Wladimir Putin aber redet von aktuell -4,3 Prozent, die Flugbahn des Bruttoinlandsprodukts bewege sich wieder Richtung Wachstum. Laut Putin erreichte die Arbeitslosigkeit im Juni ein historisches Minimum von 3,9 Prozent. Die Moskauer glauben lieber Putins Zahlen. Aber im Alltag müssen sie erleben, wie Wunsch und Wirklichkeit langsam auseinanderrutschen.
Luxustempel außer Betrieb
Über dem Manege-Platz am Kreml weht Jazz-Musik in den regennassen Himmel. Hier hat man einen Lustgarten aus bunten, teils echten, teils künstlichen Blumenhecken aufgebaut. Dahinter, am Hotel Moskwa, lauert für alle Fälle ein stählerner Transportwagen der Einsatzpolizei. Aber die Moskowiter scheinen auch heute nur bummeln zu wollen. Oder Shoppen. Aus den Schaufenstern an der Twerskaja, Moskaus Prachtstraße, leuchten ähnliche Markenschätze wie aus den Auslagen im GUM am Roten Platz, einst dem berühmtesten Kaufhaus der Sowjetunion. Oder im ZUM, seinem schon damals größten Konkurrent. Burberry, Lacoste, Breitling, Giorgio Armani, Brioni, Zimmerli of Switzerland.
Moskau beansprucht seit Jahren stolz, die kostspieligste Stadt Europas zu sein. Auch in den GUM-Vitrinen von Gucci, Cartier, Hugo Boss oder Prada thronen Handtaschen und Damenschuhe wie antike Anbetungsstücke, auf Videoschirmen drehen sich halbnackte Models in Endlosschleifen. Aber die Glastüren davor sind geschlossen, kleine Schilder hängen aus: „Verehrte Kunden, die Boutique ist zeitweise geschlossen. Wir bitten um Entschuldigung wegen möglicher Unannehmlichkeiten.“Die Zentraltempel des Moskauer Luxus sind zur Hälfte außer Betrieb.
Ein diskreter, für Durchschnittsmoskauer kaum spürbarer Abstieg. Aber die Verkaufsfläche von H&M im Kinderkaufhaus Detski Mir ist bis auf ein paar Kleiderständer leer geräumt. Unübersehbar. Und in der Fußgängerzone am Kusnezki Most tragen gleich mehrere Fassaden das Label der Krise: „Zu vermieten.“Eine Girlande violetter und gelber Luftballons hängt über einem Schaufenster, das mit einem roten Plakat zugeklebt ist: „Geschäftsaufgabe. Räumungsverkauf. 50, 60, 70 Prozent.“
Verkäufer haben es schwer
Da macht keine Westmarke dicht, sondern ein russischer Laden, der Lederjacken und Pelzmäntel verkaufte. „Unsere Waren kamen aus der Türkei, Italien und Deutschland“, die kleine Verkäuferin mit ziegelrot gefärbten Haaren freut sich, einen westlichen Ausländer vor sich zu haben. „Der Import ist
Wir sollten hier froh sein, dass wir und unsere Kinder nicht täglich mit Raketen beschossen werden. Swetlana, Managerin
zu teuer geworden.“Auch eine junge Kundin im schwarzen Pelzmantel macht zutrauliche Augen: „Sagen Sie, steht mir das?“
Die Verkäuferin erkundigt sich, ob ich „für die anderen bin“, dann möchte sie nicht mehr über Politik reden. Aber ihr Kollege erzählt, die nächsten zwei Monate würden sie noch Kinderpelze verkaufen. „Mal sehen, was danach kommt.“Aber Verkäufer hätten es jetzt schwer. Die Hälfte von ihnen sei schon entlassen. „Früher konnte man bis zu 100 000 Rubel im Monat machen, jetzt keine 60 000 mehr.“Das sind noch immer knapp tausend Euro.
Der kirgisische Koch Ulukbek hat mit seinen 12-Stunden-Schichten in einem teuren Restaurant sogar umgerechnet 1 500 Euro verdient. Jetzt ist Ulukbek entlassen, musste seine Dreiraumwohnung am Stadtrand aufgeben, weil er die 600 Euro Miete nicht mehr bezahlen konnte. Er, seine Frau und seine Kinder leben in einem WG-Zimmer, das sie 220 Euro kostet.
Stille Einzelfälle, von keiner Statistik erfasst. Nach einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Meinungsforschungszentrums vom August machen die Sanktionen nur 22 Prozent der Russen ernsthaft Sorgen. Ein Großteil von ihnen
teurer geworden. Und die russische Zollbehörde warnt, „parallele Importe“, vor allem Elektronik, Kleidung und Kinderspielzeuge, seien oft billige Fälschungen. Russlands Großstadtkonsumenten müssen vermehrt Verdrängungsarbeit leisten. Nicht nur die zwölfjährige Darja schimpft, die Pommes im unter russischem Management und Namen neu eröffneten McDonalds schmeckten nach gar
ist der Branche die Tinte zum Beschriften ausgegangen.
Im Grillpub Zames läuft Fußball. Auf einer Leinwand kickt Ural gegen Spartak, russischer Pokal. Auf der anderen Liverpool gegen Ajax, Champions League. Zwei Welten. Am Nebentisch sitzt ein Aserbaidschaner vor einer fast vollen Flasche Wodka und röhrt in sein Handy. Gegenüber feiert ein Dutzend junger Leute Geburtstag, in Freizeitkleidung, mit allerlei Markenlabeln, Burgern und Bierkaraffen. Zames befindet sich im 5. Stock des Einkaufszentrum Afimoll City. Das gehört zu Moskwa City, 101 Etagen hoch und selbstgewiss, die coolste Wolkenkratzersiedlung Europas zu sein.
Von überteuerten Irrflügen
Das billigste Bier, O,4 Liter Zames Hell, kostet im Zames umgerechnet fünf Euro, Swetlana trinkt ein belgisches Strubbe Cran für 6,70 Euro. Sie arbeitet als Chefmanagerin einer russischen Kosmetikfirma hier, fährt im eigenen Dienstwagen und hat gerade auf Mallorca Urlaub gemacht. Cool fühlt sich die 48-Jährige trotzdem nicht.
„Zwischenlandung in Istanbul, eine Nacht im Hotel, Zwischenlandung in Barcelona“, erzählt sie. „Der Flug kostete 2 300 Euro.“Und sie hätte nur Bargeld gehabt, weil in Europa alle russischen Kreditkarten gesperrt sind. „Auf dem Rückflug Zwischenlandung in Düsseldorf, der Anschlussflug fiel aus, ich hatte Glück, ich hatte noch 300 Euro für ein passendes Ticket nach Istanbul.“
In vielen gehobenen Moskauer Bars hört man jetzt Geschichten von überteuerten Irrflügen, fehlenden Kreditkarten, erschwerten Visa-Anträgen oder ganz ausgefallene Italien-Urlauben.
Swetlana aber macht im Gegensatz zu den meisten Mitbürgern nicht den Westen dafür verantwortlich. „Wir hatten früher eine Filiale in Charkow. Mit manchen ukrainischen Mitarbeitern telefoniere ich noch. Wir sollten hier froh sein, dass wir und unsere Kinder nicht täglich mit Raketen beschossen werden.“
Zumindest an der Sanktionsfront fühlen sich die Russen als Sieger. Der Import ist zu teuer geworden. Eine Verkäuferin in der Fußgängerzone