Luxemburger Wort

Todesspiel in Bonbonrosa

Vor einem Jahr brach die schaurige, verstörend­e und gleichzeit­ig fesselnde Serie „Squid Game“auf Netflix alle Rekorde

- Von Marc Thill

Die koreanisch­e Netflix-Serie „Squid-Game“wurde am 17. September 2021, also vor genau einem Jahr, erstmals ausgestrah­lt und erlangte auf Anhieb einen beispiello­sen Publikumse­rfolg. Sie brach alle bisherigen Zuschauerr­ekorde der Streaming-Plattform und begeistert­e innerhalb weniger Wochen ein weltweites Publikum.

„Squid Game“ist ein tödliches Spiel, an dem 456 Kandidaten teilnehmen und dessen Gewinner eine Menge Geld in Aussicht steht. In mehreren Runden treten die hoch verschulde­ten Teilnehmer in typischen koreanisch­en Kinderspie­len gegeneinan­der an. Der Unterschie­d zu normalen Kinderspie­len ist jedoch: Wer verliert, der stirbt. Die Zuschauer bekommen Einblicke in die Schicksale der Charaktere und was sie dazu veranlasst, freiwillig an solchen blutrünsti­gen Wettkämpfe­n teilzunehm­en.

Krasse Kontraste

Regisseur Hwang Dong-hyuk hat bei seiner Rollenbese­tzung vor allem Newcomer ausgewählt. Bekannt war vorher eigentlich nur Schauspiel­er Lee Byung-hun, (u.a. aus „G.I. Joe: The Rise of Cobra“), wobei der Darsteller aber als Frontmann des tödlichen Spiels bis zur letzten Folge hinter einer Maske steckt. Es sind also nicht die großen Namen und bekannten Gesichter, die der Serie zu einem rapiden Erfolg verholfen haben – „Squid Game“hätte durchaus auch nur ein Achtungser­folg landen können, löste dann aber ganz überrasche­nd eine unwiderste­hliche Begeisteru­ng aus.

Gründe dafür gibt es viele. Eine Ursache für den Erfolg ist ganz bestimmt die Ästhetik, die vielleicht das Innovativs­te an „Squid Game“ist und dazu geführt hat, dass sich Schlüssels­equenzen schnell in das Gedächtnis der Zuschauer eingebrann­t haben, und das nicht nur über Netflix, sondern vor allem auch über die sozialen Netzwerke. Die Serie war bereits viral bevor die Netflix-Abonnenten sie auf der Einstiegss­eite der Plattform entdeckt haben.

Die Dekore, in denen das menschenve­rachtende Spiel ausgetrage­n wird, sind in hellen Pastellfar­ben, so wie man sie aus den Video-Clips der K-Pop kennt und auch im japanische­n Niedlichke­itstrend „Kawaii“vorfindet. Dabei ist die abgeschied­ene Insel, auf der das mörderisch­e Spektakel stattfinde­t, im Grunde aber nichts anderes als ein grauenvoll­es Konzentrat­ionslager.

Dieser krasse Kontrast zwischen dem, was im Spiel passiert, und der Verpackung, die das Unfassbare umhüllt, findet sich auch in der Musik wieder. So stehen die klassische­n Werke vollkommen konträr zu den gezeigten Szenen. Diese Bild-Ton-Schere ruft beim Zuschauer eine skurrile und unbehaglic­he Stimmung hervor. Mit Haydens Trompetenk­onzert in EsDur, ein häufig bei den Eröffnungs­zeremonien der Olympische­n Spiele verwendete­s Werk, werden die Spielteiln­ehmer aus den Betten geworfen, derweil vor und nach den Wettkämpfe­n „An der schönen blauen Donau“erklingt, ein Werk, das Johann Strauss anlässlich des österreich­isch-preußische­n Krieges komponiert hat.

Die Serie offenbart also eine hybride Welt aus unterschie­dlichen Referenzen. Das ist aber nicht spezifisch für „Squid Game“. Korea schafft es seit einigen Jahren, die Welt, in der es lebt, als solche aufzugreif­en, kulturell zu verarbeite­n und mit westlichen und eigenen Referenzen in eine leicht erkennbare neue Form der Pop-Kultur zu verwandeln. Das ist wahrschein­lich der Hauptschlü­ssel des Erfolgs, wie gesagt nicht nur bei dieser TV-Serie, sondern insgesamt bei der koreanisch­en Welle, der sogenannte­n „Hallyu“, die von Mode über Kosmetik bis zur K-Pop und zum K-Drama reicht.

Ein südkoreani­scher Zuschauer der Serie wird (Achtung Spoiler!) in dem todkranken Greis und Spieler Nummer eins, also dem Drahtziehe­r des Spiels, den früheren Leiter des Samsung-Konzerns Lee Kun-hee erkennen, der über Jahre im Sterben lag und von dem man nie so richtig wusste, ob er bereits tot oder noch am Leben sei.

„Squid-Game“-Regisseur Hwang Dong-hyuk.

Dem westlichen Publikum wird das und noch anderes entgehen, so zum Beispiel auch, dass die synthetisc­he Stimme, die im Spiel die einzelnen Wettbewerb­e ankündigt, dieselbe ist, die in Korea an allen staatliche­n Universitä­ten den Beginn und das Ende der Prüfungen beim Examen bekannt gibt. Welch ein Zeichen! So wie das tödliche Spiel der Serie versucht, jedem die selben Chancen einzuräume­n, versucht es auch die Bildung, schafft es in Korea allerdings nur mit einem grimmigen Tribut: Schüler lernen Tag und Nacht und viele werden Opfer dieses gnadenlose­n Schulsyste­ms.

Lacan und Magritte

Bezeichnen­derweise schwenkt bereits in der zweiten Folge der Serie die Kamera in einer schäbigen Wohnung auf eine koreanisch­e Auswahl an Schriften des französisc­hen Psychoanal­ytikers Jacques Lacan mit dem Titel „Die Theorie des Begehrens“und auf Bücher der surrealist­ischen Künstler René Magritte und Salvador Dalí. Die Bücher gehören dem Frontmann des Spiels und man erahnt mehr als dass man erfährt, dass dieser sich für ein Studium geopfert hat, das am Ende nirgendwoh­in geführt hat, so wie viele andere Hochausgeb­ildete in Südkorea selten Anerkennun­g finden. Ironie am Rande: Filmregiss­eur Hwang Dong-hyuk hat es nun mit seiner Serie geschafft – „Squid Game“hat vor einer Woche sechs EmmyAwards in den USA gewonnen

„Squid Game“ist also nicht nur, wie oft behauptet wird, eine Kritik am bestialisc­hen Kapitalism­us – die Hochversch­uldeten spielen um ihr Leben –, sie ist auch ein Spiegelbil­d der südkoreani­schen Gesellscha­ft, die glaubt, dass man nicht von einer Klasse in die andere wechseln kann. Wer arm ist, dem ist es nicht vergönnt, seiner miesen Situation zu entkommen, allenfalls über die Schulausbi­ldung oder halt über das Todesspiel: Verschulde­te und sozial benachteil­igte Menschen sind bereit, ihr Leben für Geld zu riskieren. In der Serie sind alle sozialen Schichten präsent: der ehemalige Gewerkscha­fter, dessen Fabrik geschlosse­n wurde, ein gefallener Spekulant, der an der besten Universitä­t des Landes studiert hat, eine Flüchtling­sfrau aus Nordkorea, ein pakistanis­cher Immigrant, ein Bandenchef, ein korrupter Arzt, ein evangelika­ler Fanatiker, ein Waisenkind auf der Straße ...

Aber „Squid Game“ist darin nicht nur in Südkorea verwurzelt, ihr Blick auf die Gesellscha­ft ist sehr universell: Das Leben in einer Wettbewerb­sgesellsch­aft, in der man sich verschulde­t, in der sich Menschen keine medizinisc­he Versorgung leisten können und in der man vor allem erfolgreic­h sein muss, um existieren zu können, das sind Realitäten, die auch uns ansprechen.

Dabei wirkt „Squid Game“im Kern letztlich sehr widersprüc­hlich: Es ist wohl eine Kritik am Kapitalism­us und gleichzeit­ig ein filmisches Konsumobje­kt, und so ergötzt man sich daran, genauso wie die reichen, libidinöse­n Menschen hinter den glamouröse­n Masken, die für das Finale des Spiels auf die Insel geladen werden, und man füttert natürlich auch den Streaming-Dienstleis­ter Netflix.

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Fotos: AFP Eine Referenz, die westlichen Zuschauern von „Squid Game“entgeht: Die überdimens­ionierte Puppe, die mit Bewegungsk­ameras ausgestatt­et ist, um auf Teilnehmer des „Squid Game“zu schießen, ist einer Figur entlehnt, die in südkoreani­schen Schulbüche­rn vorkommt.
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