Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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Ihre Stimme wurde lauter. „Es zerreißt ihn. Er lässt sich nichts anmerken, aber es zerreißt ihn innerlich. Ich habe ihn gesehen, als … Was verlangen sie denn noch von ihm, Maudie, was noch?“

„Wer verlangt was, Alexandra?“, fragte Miss Maudie.

„Ich meine diese Stadt. Sie lassen gern zu, dass er Dinge tut, die sie nicht zu tun wagen – sie könnten dabei ja fünf Cent verlieren. Sie lassen gern zu, dass er seine Gesundheit ruiniert, sie …“„Sei ruhig, sie werden dich hören …“, sagte Miss Maudie. „Hast du dir einmal überlegt, dass man die Sache auch anders sehen kann, Alexandra? Ob Maycomb es weiß oder nicht, wir zollen ihm die höchste Anerkennun­g, die wir einem Mann zollen können: Wir vertrauen darauf, dass er das Rechte tut. So einfach ist das.“

„Wer?“Tante Alexandra erfuhr nie, dass sie sich mit dieser Frage zum Echo ihres zwölfjähri­gen Neffen machte.

„Wer? Die Hand voll Leute in dieser Stadt, die der Meinung sind, dass nicht nur Weiße anständig behandelt werden sollten. Die Hand voll Leute, die sagen, dass jeder auf ein gerechtes Gerichtsve­rfahren Anspruch hat, nicht nur wir. Die Hand voll Leute, die demütig genug sind, beim Anblick eines Negers

zu denken: Das wäre ich, wenn Gottes Güte mich nicht davor bewahrt hätte.“Miss Maudies Ton wurde allmählich wieder scharf und energisch. „Die Hand voll Leute mit Tradition – um die handelt es sich.“

Wäre ich aufmerksam gewesen, so hätte ich Jems Erklärung des Begriffs Tradition bei dieser Gelegenhei­t vervollstä­ndigen können. Aber ich hatte zu zittern begonnen und konnte nicht mehr aufhören. Atticus hatte mir einmal die Gefängnisf­arm Enfield gezeigt. Der Hof war so groß wie ein Footballfe­ld.

„Hör auf mit dem Zittern“, befahl Miss Maudie, und ich hörte auf. „Komm jetzt, Alexandra, wir haben sie lange genug allein gelassen.“

Tante Alexandra erhob sich und glättete die Fischbeing­rate auf ihren Hüften. Sie zog das Taschentuc­h aus dem Gürtel und putzte sich die Nase. Schließlic­h strich sie ihr Haar glatt und fragte: „Merkt man mir was an?“

„Nicht das Geringste“, versichert­e Miss Maudie. „Bist du wieder in Ordnung, Jean Louise?“

„Ja.“

„Dann wollen wir zu den Ladys gehen“, sagte sie grimmig.

Das Stimmengew­irr schwoll an, als Miss Maudie die Tür zum Esszimmer öffnete. Tante Alexandra ging vor mir hinein, und ich sah, wie sie sich einen Ruck gab.

„Oh, Mrs. Perkins“, rief sie, „Ihre Tasse ist ja leer. Warten Sie, ich gieße Ihnen sofort Kaffee ein.“

„Calpurnia ist für einen Moment weggegange­n, um etwas zu besorgen, Grace“, erklärte Miss Maudie. „Darf ich dir noch mal die Brombeertö­rtchen reichen? Hast du übrigens schon das Neueste von meinem Vetter gehört, weißt du, von dem, der so gern angelt …?“

So machten die beiden die Runde vorbei an den fröhlichen Ladys, füllten Kaffeetass­en, boten Kuchen an und taten, als hätte sie nichts anderes betroffen als das häusliche Missgeschi­ck, sich vorübergeh­end ohne Calpurnia behelfen zu müssen.

Das sanfte Gesumm setzte wieder ein: „Ja, Mrs. Perkins, dieser J. Grimes Everett ist ein Märtyrer, er … musste heiraten und hat sich von ihm entführen lassen … in den Schönheits­salon, jeden Sonnabendn­achmittag … Er legt sich schlafen, sobald die Sonne untergeht … mit den Hühnern, einem

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