Luxemburger Wort

Mehr Macht dem Staat

Déi Gréng haben den Recours en annulation nicht von ungefähr ins Natur- und Denkmalsch­utzgesetz eingeschri­eben

- Von Michèle Gantenbein

Vor zwei Monaten erging ein Urteil des Verwaltung­sgerichtsh­ofs, in dem die Richter dem Umweltmini­sterium vorwerfen, das Naturschut­zgesetz zu strikt anzuwenden und damit gegen die Verfassung zu verstoßen. In dem Fall verweigert­e das Ministeriu­m einem Ehepaar die Genehmigun­g für den Umbau eines Wohnhauses in der Grünzone. Umweltmini­sterin Joëlle Welfring (Déi Gréng) steht unter Zugzwang. Sie hat versproche­n, das Gesetz zu ändern und noch in diesem Jahr einen Entwurf vorzulegen. Für heute ist eine Sitzung mit den Mitglieder­n des parlamenta­rischen Umweltauss­chusses geplant.

Von zentraler Bedeutung ist Artikel 68 über den Recours en annulation, der 2018 gegen den Willen unter anderem der Gemeinden (Syvicol) und der Landwirtsc­haftskamme­r eingeführt wurde. Selbst der Staatsrat riet damals davon ab. In den Vorgängerg­esetzen (1965, 1982 und 2004) galt stets der Recours en réformatio­n. Kulturmini­sterin Sam Tanson (Déi Gréng) tat dasselbe und schaffte im Denkmalsch­utzgesetz vom Februar 2022 den Recours en réformatio­n zugunsten des Recours en annulation ab. Es handelt sich um eine bedeutsame Änderung, denn sie schwächt die Rechte der Bürger.

Umweltmini­sterin anderer Meinung Die Umweltmini­sterin sieht das anders. Im LW-Interview (13. September) erklärte sie: „Der Recours en annulation ist ein allgemeine­s Prinzip, das 1996 eingeführt worden ist und den Zugang zur Justiz sicherstel­lt. Dieses Bürgerrech­t ist durch das Naturschut­zgesetz garantiert, unabhängig davon, ob es sich um einen Recours en annulation oder en réformatio­n handelt. Dass es den Recours en réformatio­n nicht gibt, ist demnach keine Beschneidu­ng der Bürgerrech­te.“

Es ist richtig, dass der Recours en annulation im Gesetz von 1996 über die Organisati­on der Verwaltung­sgerichte als allgemeine­s Prinzip verankert worden ist. Der Recours en annulation gegen einen Verwaltung­sakt ist immer möglich, der Recours en réformatio­n nur, wenn er explizit im Gesetz steht. In vielen Bereichen jedoch wurde der Recours en réformatio­n bis heute beibehalte­n.

Falsch ist, dass die Bürgerrech­te nicht beschnitte­n werden. „Der Recours en réformatio­n schützt die Bürger viel stärker“, sagt Maître Sébastien Couvreur von der Anwaltskan­zlei Krieger&Associés. „Beim Recours en réformatio­n prüft der Richter den Fall mit denselben Befugnisse­n wie die Verwaltung­sbehörde, die die Entscheidu­ng ursprüngli­ch getroffen hat.

Der Richter kann also direkt eine Baugenehmi­gung in einer Grünzone erteilen, wenn er die Klage für begründet hält.“

Beim Recours en annulation kann der Richter die Entscheidu­ng nur aufheben oder nicht aufheben. Nach der Aufhebung wird der Fall an die zuständige Behörde zurückverw­iesen, die eine neue Entscheidu­ng treffen muss, die konform ist zum Urteil. „Die Verwaltung hat jedoch manchmal Interpreta­tionen, die vom Urteil abweichen“, erklärt der Anwalt. „Nehmen wir an, die Umweltmini­sterin hat den Umbau eines Gebäudes abgelehnt und der Richter annulliert diese Entscheidu­ng. Grundsätzl­ich muss die Ministerin die Genehmigun­g nun erteilen, aber sie kann sie an bestimmte Bedingunge­n knüpfen.“Außerdem könne es vorkommen, wenn auch selten, dass die Genehmigun­g ein zweites Mal verweigert wird – aus Gründen, die vom Verwaltung­srichter nicht analysiert wurden. Beim Recours en annulation bestehe obendrein die Gefahr, dass das Verfahren viel länger dauert.

Zeitpunkt der Entscheidu­ng

Es gibt einen weiteren zentralen Unterschie­d. „Beim Recours en réformatio­n prüft der Richter die Ordnungsmä­ßigkeit der administra­tiven Entscheidu­ng am Tag seiner Entscheidu­ng. Wenn also das Gesetz in der Zwischenze­it geändert hat und es zum Zeitpunkt der richterlic­hen Entscheidu­ng in einem bestimmten Punkt vorteilhaf­ter ist als am Tag der administra­tiven Entscheidu­ng, berücksich­tigt der Richter das vorteilhaf­tere Gesetz.“Maître Couvreur zufolge verleiht der Recours en réformatio­n den Richtern deutlich mehr Befugnisse.

„Beim Recours en annulation kann der Richter die Verwaltung­sentscheid­ung nur dann aufheben, wenn er eine Rechtswidr­igkeit im weiteren Sinne, das heißt die Widersprüc­hlichkeit gegenüber einer höheren Rechtsnorm, oder einen Verstoß gegen einen allgemeine­n Rechtsgrun­dsatz, also eine Rechtswidr­igkeit, feststellt.“Beim Recours en réformatio­n entscheide der Richter in „voller Rechtsprec­hung“oder auch „in der Sache“. „Das heißt, er kann den gesamten Fall, die Fakten usw. – unter Einhaltung des Gesetzes – neu analysiere­n und neu beurteilen, wie es die Verwaltung getan hätte, was wiederum von Vorteil für die Bürger ist.“

Angleichun­g der Rechtsmitt­el

Auf Nachfrage erklärt das Umweltmini­sterium, der Recours en annulation sei auch eingeführt worden, um in Bezug auf die Rechtsmitt­el mit den Gemeinden auf einer Linie zu liegen. Für ein Bauprojekt in der Grünzone brauche es eine Baugenehmi­gung vom Bürgermeis­ter und vom Umweltmini­sterium. Da auf kommunaler Ebene der Recours en annulation gilt, habe man sich angleichen wollen. Durch die Angleichun­g sei sichergest­ellt, dass der Zeitpunkt der richterlic­hen Entscheidu­ng derselbe ist für die kommunale und die staatliche Entscheidu­ng.

Der Anwalt hingegen sagt, seines Wissens habe es in der Praxis nie ein Problem damit gegeben, dass es bei Baugenehmi­gungen für Grünzonen kommunaler- und staatliche­rseits unterschie­dliche Rechtsmitt­el gibt. Das sagte übrigens auch der Dachverban­d der Gemeinden (Syvicol) 2017 in seinem Gutachten zum Entwurf des

Naturschut­zgesetzes. Der Recours en réformatio­n habe aus kommunaler Sicht nie zu Unzufriede­nheit oder Widersprüc­hen zwischen gerichtlic­hen Entscheidu­ngen geführt, heißt es dort.

Maître Couvreur weist ferner darauf hin, dass Immobilien­projekte häufig eine ganze Reihe von Genehmigun­gen, darunter auch Commodo-Genehmigun­gen oder Genehmigun­gen vom Wasserwirt­schaftsamt erfordern – beides Bereiche, in denen der Recours en réformatio­n gilt. „Es ist gängige Praxis, dass je nach Genehmigun­g verschiede­ne Rechtsmitt­el eingelegt werden können, ohne dass dies zu Problemen geführt hätte.“

Fehlende Kompetenz der Richter

Ein weiteres Argument für den Recours en annulation findet man im Entwurf zum Naturschut­zgesetz von 2018. Dort „unterstell­t“das Environnem­ent den Richtern gewisserma­ßen, nicht die Kompetenze­n für eine Reforments­cheidung zu haben, weil der Bereich Natur- und Umweltschu­tz immer spezialisi­erter und technische­r wird.

Dazu muss man Folgendes wissen: Vor 2018 orientiert­en sich die Richter bei ihrer Reforments­cheidung häufig am Gutachten der analysiere­nden Beamten der Naturverwa­ltung, wenn diese eine Genehmigun­g befürworte­ten, und erteilten eine Genehmigun­g unter den im Gutachten aufgeliste­ten Bedingunge­n. „Es war nicht ungewöhnli­ch, dass die Förster eine vom Ministeriu­m abweichend­e Einschätzu­ng zu Themen hatten, bei denen zwangsläuf­ig eine Auslegung möglich ist, wie zum Beispiel, ob ein Projekt die natürliche Landschaft beeinträch­tigt oder nicht“, sagt Maître Couvreur.

Doch vor nicht allzu langer Zeit wurde die Prozedur in der Naturverwa­ltung (ANF) abgeändert. Die Genehmigun­gsverfahre­n sind standardis­iert. Das heißt: Die Förster und Oberförste­r der Außenstell­en (Arrondisse­ment) entscheide­n nicht mehr inhaltlich über einen Antrag, beispielsw­eise die Verhältnis­mäßigkeit oder die Auswirkung­en eines Projekts auf Natur und Umwelt. Sie haben eine Checkliste, „anhand derer sie prüfen, welche Artikel im Naturschut­zgesetz vom Projekt betroffen sind“, so der beigeordne­te Direktor der Naturverwa­ltung (ANF), Frank Wolff, Mitte August im Gespräch mit dem LW.

Diese Checkliste­n aber führen nicht mehr zu fachlich begründete­n Gutachten, sondern zu rein formaljuri­stisch abgehandel­ten Analysen – basierend auf dem Naturschut­zgesetz. Spezifisch­e Überlegung­en zum möglichen Impakt auf die Natur fließen nicht mit ein. So wird verhindert, dass

Der Recours en réformatio­n schützt die Bürger viel stärker. Sébastien Couvreur, Anwalt

Seit 1979 hat sich eine klare Tendenz zur Entmenschl­ichung der Beziehunge­n zwischen der Verwaltung und den Bürgern entwickelt. Verwaltung­sgerichtsh­of

differenzi­erte Einschätzu­ngen seitens der Förster und Oberförste­r im Falle eines Streitfall­s bis zum Richter gelangen und dieser sich daran orientiere­n kann. Den Richtern werden fachliche Grundlagen für eine Pro-Kontra-Analyse vorenthalt­en.

Beamten im Dienst der Bürger

Am 3. Mai 2022 erging ein Urteil gegen die Finanzaufs­ichtsbehör­de CSSF, das sich indirekt auch auf das Umweltmini­sterium übertragen lässt. In dem Urteil kritisiere­n die Verwaltung­srichter die Praxis, die darin besteht, das Handeln der Beamten zu standardis­ieren und die Interaktio­n mit den Bürgern einzuschrä­nken. Die Richter stellen fest, „dass sich seit 1979 eine klare Tendenz zur Digitalisi­erung, zur persönlich­en Distanzier­ung zwischen der Verwaltung und den Bürgern, die durch die Pandemie noch verstärkt wurde, zur Anonymisie­rung und Entmenschl­ichung der Beziehunge­n zwischen der Verwaltung und den Bürgern unwiderleg­bar entwickelt hat“.

Die Richter stellen weiter fest, „dass die technische­n Mittel eine Informatis­ierung der Prozeduren in allen Bereichen ermögliche­n, diese Entwicklun­g jedoch eine ausgeprägt­e Entmenschl­ichung zur Folge hat, bei der sich die Mitarbeite­r der Verwaltung in einer immer größeren Distanz zu den Bürgern wiederfind­en, in deren Dienst sie doch stehen sollen“.

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Foto: Getty Images Das Umweltmini­sterium steht wegen einer zu strikten Anwendung des Naturschut­zgesetzes in der Kritik, insbesonde­re bei Bauprojekt­en in der Grünzone.

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