Mehr Macht dem Staat
Déi Gréng haben den Recours en annulation nicht von ungefähr ins Natur- und Denkmalschutzgesetz eingeschrieben
Vor zwei Monaten erging ein Urteil des Verwaltungsgerichtshofs, in dem die Richter dem Umweltministerium vorwerfen, das Naturschutzgesetz zu strikt anzuwenden und damit gegen die Verfassung zu verstoßen. In dem Fall verweigerte das Ministerium einem Ehepaar die Genehmigung für den Umbau eines Wohnhauses in der Grünzone. Umweltministerin Joëlle Welfring (Déi Gréng) steht unter Zugzwang. Sie hat versprochen, das Gesetz zu ändern und noch in diesem Jahr einen Entwurf vorzulegen. Für heute ist eine Sitzung mit den Mitgliedern des parlamentarischen Umweltausschusses geplant.
Von zentraler Bedeutung ist Artikel 68 über den Recours en annulation, der 2018 gegen den Willen unter anderem der Gemeinden (Syvicol) und der Landwirtschaftskammer eingeführt wurde. Selbst der Staatsrat riet damals davon ab. In den Vorgängergesetzen (1965, 1982 und 2004) galt stets der Recours en réformation. Kulturministerin Sam Tanson (Déi Gréng) tat dasselbe und schaffte im Denkmalschutzgesetz vom Februar 2022 den Recours en réformation zugunsten des Recours en annulation ab. Es handelt sich um eine bedeutsame Änderung, denn sie schwächt die Rechte der Bürger.
Umweltministerin anderer Meinung Die Umweltministerin sieht das anders. Im LW-Interview (13. September) erklärte sie: „Der Recours en annulation ist ein allgemeines Prinzip, das 1996 eingeführt worden ist und den Zugang zur Justiz sicherstellt. Dieses Bürgerrecht ist durch das Naturschutzgesetz garantiert, unabhängig davon, ob es sich um einen Recours en annulation oder en réformation handelt. Dass es den Recours en réformation nicht gibt, ist demnach keine Beschneidung der Bürgerrechte.“
Es ist richtig, dass der Recours en annulation im Gesetz von 1996 über die Organisation der Verwaltungsgerichte als allgemeines Prinzip verankert worden ist. Der Recours en annulation gegen einen Verwaltungsakt ist immer möglich, der Recours en réformation nur, wenn er explizit im Gesetz steht. In vielen Bereichen jedoch wurde der Recours en réformation bis heute beibehalten.
Falsch ist, dass die Bürgerrechte nicht beschnitten werden. „Der Recours en réformation schützt die Bürger viel stärker“, sagt Maître Sébastien Couvreur von der Anwaltskanzlei Krieger&Associés. „Beim Recours en réformation prüft der Richter den Fall mit denselben Befugnissen wie die Verwaltungsbehörde, die die Entscheidung ursprünglich getroffen hat.
Der Richter kann also direkt eine Baugenehmigung in einer Grünzone erteilen, wenn er die Klage für begründet hält.“
Beim Recours en annulation kann der Richter die Entscheidung nur aufheben oder nicht aufheben. Nach der Aufhebung wird der Fall an die zuständige Behörde zurückverwiesen, die eine neue Entscheidung treffen muss, die konform ist zum Urteil. „Die Verwaltung hat jedoch manchmal Interpretationen, die vom Urteil abweichen“, erklärt der Anwalt. „Nehmen wir an, die Umweltministerin hat den Umbau eines Gebäudes abgelehnt und der Richter annulliert diese Entscheidung. Grundsätzlich muss die Ministerin die Genehmigung nun erteilen, aber sie kann sie an bestimmte Bedingungen knüpfen.“Außerdem könne es vorkommen, wenn auch selten, dass die Genehmigung ein zweites Mal verweigert wird – aus Gründen, die vom Verwaltungsrichter nicht analysiert wurden. Beim Recours en annulation bestehe obendrein die Gefahr, dass das Verfahren viel länger dauert.
Zeitpunkt der Entscheidung
Es gibt einen weiteren zentralen Unterschied. „Beim Recours en réformation prüft der Richter die Ordnungsmäßigkeit der administrativen Entscheidung am Tag seiner Entscheidung. Wenn also das Gesetz in der Zwischenzeit geändert hat und es zum Zeitpunkt der richterlichen Entscheidung in einem bestimmten Punkt vorteilhafter ist als am Tag der administrativen Entscheidung, berücksichtigt der Richter das vorteilhaftere Gesetz.“Maître Couvreur zufolge verleiht der Recours en réformation den Richtern deutlich mehr Befugnisse.
„Beim Recours en annulation kann der Richter die Verwaltungsentscheidung nur dann aufheben, wenn er eine Rechtswidrigkeit im weiteren Sinne, das heißt die Widersprüchlichkeit gegenüber einer höheren Rechtsnorm, oder einen Verstoß gegen einen allgemeinen Rechtsgrundsatz, also eine Rechtswidrigkeit, feststellt.“Beim Recours en réformation entscheide der Richter in „voller Rechtsprechung“oder auch „in der Sache“. „Das heißt, er kann den gesamten Fall, die Fakten usw. – unter Einhaltung des Gesetzes – neu analysieren und neu beurteilen, wie es die Verwaltung getan hätte, was wiederum von Vorteil für die Bürger ist.“
Angleichung der Rechtsmittel
Auf Nachfrage erklärt das Umweltministerium, der Recours en annulation sei auch eingeführt worden, um in Bezug auf die Rechtsmittel mit den Gemeinden auf einer Linie zu liegen. Für ein Bauprojekt in der Grünzone brauche es eine Baugenehmigung vom Bürgermeister und vom Umweltministerium. Da auf kommunaler Ebene der Recours en annulation gilt, habe man sich angleichen wollen. Durch die Angleichung sei sichergestellt, dass der Zeitpunkt der richterlichen Entscheidung derselbe ist für die kommunale und die staatliche Entscheidung.
Der Anwalt hingegen sagt, seines Wissens habe es in der Praxis nie ein Problem damit gegeben, dass es bei Baugenehmigungen für Grünzonen kommunaler- und staatlicherseits unterschiedliche Rechtsmittel gibt. Das sagte übrigens auch der Dachverband der Gemeinden (Syvicol) 2017 in seinem Gutachten zum Entwurf des
Naturschutzgesetzes. Der Recours en réformation habe aus kommunaler Sicht nie zu Unzufriedenheit oder Widersprüchen zwischen gerichtlichen Entscheidungen geführt, heißt es dort.
Maître Couvreur weist ferner darauf hin, dass Immobilienprojekte häufig eine ganze Reihe von Genehmigungen, darunter auch Commodo-Genehmigungen oder Genehmigungen vom Wasserwirtschaftsamt erfordern – beides Bereiche, in denen der Recours en réformation gilt. „Es ist gängige Praxis, dass je nach Genehmigung verschiedene Rechtsmittel eingelegt werden können, ohne dass dies zu Problemen geführt hätte.“
Fehlende Kompetenz der Richter
Ein weiteres Argument für den Recours en annulation findet man im Entwurf zum Naturschutzgesetz von 2018. Dort „unterstellt“das Environnement den Richtern gewissermaßen, nicht die Kompetenzen für eine Reformentscheidung zu haben, weil der Bereich Natur- und Umweltschutz immer spezialisierter und technischer wird.
Dazu muss man Folgendes wissen: Vor 2018 orientierten sich die Richter bei ihrer Reformentscheidung häufig am Gutachten der analysierenden Beamten der Naturverwaltung, wenn diese eine Genehmigung befürworteten, und erteilten eine Genehmigung unter den im Gutachten aufgelisteten Bedingungen. „Es war nicht ungewöhnlich, dass die Förster eine vom Ministerium abweichende Einschätzung zu Themen hatten, bei denen zwangsläufig eine Auslegung möglich ist, wie zum Beispiel, ob ein Projekt die natürliche Landschaft beeinträchtigt oder nicht“, sagt Maître Couvreur.
Doch vor nicht allzu langer Zeit wurde die Prozedur in der Naturverwaltung (ANF) abgeändert. Die Genehmigungsverfahren sind standardisiert. Das heißt: Die Förster und Oberförster der Außenstellen (Arrondissement) entscheiden nicht mehr inhaltlich über einen Antrag, beispielsweise die Verhältnismäßigkeit oder die Auswirkungen eines Projekts auf Natur und Umwelt. Sie haben eine Checkliste, „anhand derer sie prüfen, welche Artikel im Naturschutzgesetz vom Projekt betroffen sind“, so der beigeordnete Direktor der Naturverwaltung (ANF), Frank Wolff, Mitte August im Gespräch mit dem LW.
Diese Checklisten aber führen nicht mehr zu fachlich begründeten Gutachten, sondern zu rein formaljuristisch abgehandelten Analysen – basierend auf dem Naturschutzgesetz. Spezifische Überlegungen zum möglichen Impakt auf die Natur fließen nicht mit ein. So wird verhindert, dass
Der Recours en réformation schützt die Bürger viel stärker. Sébastien Couvreur, Anwalt
Seit 1979 hat sich eine klare Tendenz zur Entmenschlichung der Beziehungen zwischen der Verwaltung und den Bürgern entwickelt. Verwaltungsgerichtshof
differenzierte Einschätzungen seitens der Förster und Oberförster im Falle eines Streitfalls bis zum Richter gelangen und dieser sich daran orientieren kann. Den Richtern werden fachliche Grundlagen für eine Pro-Kontra-Analyse vorenthalten.
Beamten im Dienst der Bürger
Am 3. Mai 2022 erging ein Urteil gegen die Finanzaufsichtsbehörde CSSF, das sich indirekt auch auf das Umweltministerium übertragen lässt. In dem Urteil kritisieren die Verwaltungsrichter die Praxis, die darin besteht, das Handeln der Beamten zu standardisieren und die Interaktion mit den Bürgern einzuschränken. Die Richter stellen fest, „dass sich seit 1979 eine klare Tendenz zur Digitalisierung, zur persönlichen Distanzierung zwischen der Verwaltung und den Bürgern, die durch die Pandemie noch verstärkt wurde, zur Anonymisierung und Entmenschlichung der Beziehungen zwischen der Verwaltung und den Bürgern unwiderlegbar entwickelt hat“.
Die Richter stellen weiter fest, „dass die technischen Mittel eine Informatisierung der Prozeduren in allen Bereichen ermöglichen, diese Entwicklung jedoch eine ausgeprägte Entmenschlichung zur Folge hat, bei der sich die Mitarbeiter der Verwaltung in einer immer größeren Distanz zu den Bürgern wiederfinden, in deren Dienst sie doch stehen sollen“.