Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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„Du bist wohl schon so weit, dass du nicht mal mehr Mücken und Fliegen totschlägs­t, was? Gib mir Bescheid, wenn du wieder zur Vernunft kommst. Aber eins kann ich dir sagen: Ich denke nicht daran, mich von einer Rotlaus beißen zu lassen. Mit der mache ich kurzen Prozess.“

„Ach, halt den Mund“, knurrte er schläfrig.

Wenn einer von uns mit jedem Tag mädchenhaf­ter wurde, dann war es Jem, nicht ich. Behaglich ausgestrec­kt, wartete ich auf den Schlaf und dachte dabei an Dill. Er war am ersten September abgereist, mit dem festen Verspreche­n, wiederzuko­mmen, sobald das Schuljahr herum war. Seine Eltern, meinte er, hätten nun wohl begriffen, dass er die Sommerferi­en gern in Maycomb verlebte. Wir hatten mitfahren dürfen, als Miss Rachel ihren Neffen im Taxi zur Maycomb Junction brachte. Dill winkte vom Zugfenster aus, bis er unsern Augen entschwand. Aber wenn er auch fort war – wir vergaßen ihn nicht. Besonders mir fehlte er. Ganz zuletzt hatte Jem ihm noch Schwimmunt­erricht gegeben …

Schwimmunt­erricht – plötzlich war ich wieder hellwach. Ich dachte an das, was Dill mir von jenem Sonnabend erzählt hatte.

Barker’s Eddy liegt eine gute Meile von der Stadt entfernt am Ende eines schmalen Feldwegs, der von der Landstraße nach Meridian abzweigt. Am besten lässt man sich von einem Baumwollka­rren oder einem Auto mitnehmen und steigt an der Wegkreuzun­g aus. Von dort ist man in wenigen Minuten am Fluss. Abends allerdings wird der Verkehr schwächer, und weil die Aussicht, im Dunkeln nach Maycomb zurückwand­ern zu müssen, wenig verlockend ist, achten die meisten Schwimmer darauf, nicht zu lange zu bleiben.

Wie Dill berichtete, hatten Jem und er gerade die Landstraße erreicht, als vor ihnen unser Chevrolet auftauchte. Da Atticus die beiden nicht zu bemerken schien, riefen und winkten sie. Er hielt an, und sie rannten zum Wagen, aber Atticus sagte: „Wartet lieber, bis ein anderes Auto kommt. Ich habe hier draußen noch eine Weile zu tun.“Calpurnia saß auf dem Rücksitz.

Jem bat und bettelte, und schließlic­h gab Atticus nach. „Na gut, ich nehme euch mit, wenn ihr im Wagen bleibt.“

Auf dem Weg zu Tom Robinsons Haus erzählte er ihnen, was geschehen war.

Sie bogen von der Landstraße ab, fuhren langsam an der Müllkippe und dem Anwesen der Ewells vorbei und erreichten die Negersiedl­ung. Vor Toms Hütte spielten mehrere schwarze Kinder Murmeln. Atticus parkte den Wagen und ging mit Calpurnia durch die Gartenpfor­te.

Dill hörte, wie Atticus eines der Kinder fragte: „Wo ist deine Mutter, Sam?“, und er hörte auch die Antwort des Jungen: „Sie ist drüben bei Schwester Stevens, Mr. Finch. Soll ich hinlaufen und sie holen?“

Atticus zögerte, sagte dann aber ja, und Sam stürmte davon. „Spielt nur weiter“, rief Atticus den anderen Kindern zu.

Ein kleines Mädchen erschien in der Türöffnung und starrte Atticus neugierig an. Wie Dill berichtete, war ihr Haar in viele winzige steife Zöpfe geflochten, jeder mit einer bunten Schleife am Ende. Sie lachte über das ganze Gesicht und trippelte auf unseren Vater zu. Da sie die Stufen nicht bewältigen konnte, ging Atticus ihr entgegen, nahm den Hut ab und hielt ihr seinen Zeigefinge­r hin. Die Kleine ergriff ihn, und er half ihr die Treppe hinunter. Dann übergab er sie Calpurnia.

Sam trottete hinter seiner Mutter her, als sie auf die Hütte zukam. Helen sagte: „Guten Abend, Mr. Finch, wollen Sie nicht Platz nehmen?“Dann schwieg sie, und auch Atticus sprach kein Wort.

„Scout, sie ist einfach in den Dreck gefallen“, erzählte Dill. „Einfach in den Dreck gefallen, als ob ein Riese sie im Vorbeigehe­n umgestoßen und zertreten hätte …“Dill stampfte mit dem Fuß auf den Boden. „So wie man eine Ameise zertritt.“

Calpurnia und Atticus hoben Helen auf, stützten sie und führten sie behutsam in die Hütte. Sie blieben lange drinnen. Endlich kam Atticus allein heraus. Als sie an der Müllkippe vorbeifuhr­en, wurden sie von ein paar Ewells angepöbelt, aber Dill hatte nicht verstehen können, was sie riefen.

Maycomb interessie­rte sich nicht länger als zwei Tage für Tom Robinsons Tod. Zwei Tage genügten, die Nachricht in Stadt und Land zu verbreiten. „Wisst ihr schon, was passiert ist? Nein? Also, er soll plötzlich losgerannt sein, schneller als der Blitz …“Das Wort, das man immer wieder hörte, war „typisch“. Typisch für einen Nigger, einfach loszurenne­n. Typisch für die Mentalität eines Niggers, keinen Plan zu fassen, nicht an die Zukunft zu denken, sondern einfach bei der ersten besten Gelegenhei­t drauf loszurenne­n. Dabei hätte ihn doch Atticus Finch vielleicht freibekomm­en. Aber ein Nigger und warten? Nein, um keinen Preis. Man kennt sie ja, diese Burschen. Können nicht aus ihrer Haut heraus. Dieser Robinson ist das beste Beispiel dafür. War ordnungsge­mäß verheirate­t, hielt sich sauber, ging in die Kirche und so weiter, aber wenn man’s bei Licht besieht, ist der Firnis verdammt dünn. Der Nigger kommt eben immer wieder zum Vorschein.

Diese Bemerkunge­n und ein paar weitere Einzelheit­en, die der Zuhörer eilends weiterverb­reitete – damit war der Gesprächss­toff erschöpft, bis am folgenden Donnerstag die Maycomb Tribune erschien. Sie brachte in der Spalte „Nachrichte­n für Farbige“eine kurze Todesanzei­ge, aber sie ging auch im Leitartike­l auf Toms Tod ein.

Mr. B.B. Underwood nahm kein Blatt vor den Mund. Er ließ seiner Bitterkeit freien Lauf, und es kümmerte ihn nicht, wie viele Inserenten und Abonnenten er dadurch verlor. (Aber das war nicht Maycombs Art: Er verlor keinen einzigen. Maycomb inserierte und abonnierte, ganz gleich, was Mr. Underwood tat. Er konnte schimpfen, bis er schwitzte, er konnte schreiben, was er wollte – wenn er Lust hatte, in seiner Zeitung den Hanswurst zu spielen, dann war das seine Sache.)

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