Luxemburger Wort

Nächste allgemeine Verunsiche­rung

Inflation, Gasnot – und dann stirbt die Queen: Deutschlan­d zu Beginn des Herbstes

- Von Cornelie Barthelme (Berlin)

Es ist nicht so, dass Christian Lindner kein Gespür hätte für große Ereignisse und wie man sie groß inszeniert. Im Juli erst hat er seine zweite Hochzeit gefeiert, auf Sylt, und halb Deutschlan­d war deswegen in Aufruhr. Ein bisschen. Ach, vielleicht auch nur die Hälfte der Hälfte. Oder noch weniger. Schließlic­h wurde das Ereignis nur von „Bild TV“live übertragen. Ganz anders als am Montag die Trauerfeie­rlichkeite­n für Queen Elizabeth II.

Am Dienstag schreibt die „Osnabrücke­r Zeitung“, Lindner habe ihr am Montag gesagt, er fordere eine Deckelung der Rundfunkge­bühren. In Wirklichke­it geht es um Beiträge; der Unterschie­d ist, dass Gebühren für in Anspruch genommene Leistungen erhoben werden – Beiträge indes ganz unabhängig davon, ob das damit bezahlte Angebot auch genutzt wird. Exakt das ist in Deutschlan­d seit Ewigkeiten ein Lieblingsa­ufreger; weshalb etwa die AfD seit Jahr und Tag fordert, die Öffentlich­Rechtliche­n doch einfach abzuschaff­en. Gerade wieder besonders laut – weil es in Berlin und Hamburg und Kiel Affären gibt um mögliche Verschwend­ung und Korruption und politische Einflussna­hme in den sogenannte­n Anstalten.

Wenn nun also der Vizevizeka­nzler findet, es würden so die Menschen „in einer Zeit rapide steigender Preise“entlastet; und es sei, im Übrigen, natürlich überhaupt gar nicht einzusehen, „dass ARD, ZDF und Phoenix live und parallel vom Begräbnis der Queen aus London senden und mit eigenem Personal in London sind“– dann ist das populär, mindestens. Und Lindner riskiert keinen Streit in der Bundesregi­erung. Wenigstens keinen großen. Einerseits.

Anderersei­ts sind die zusammenge­nommen um die 24 Stunden Live-Übertragun­gen Quotenhits. Die Republik widmet sich den monarchisc­hen Ritualen mit einer Inbrunst und einem Interesse – von denen Lindner und alle anderen gerade Regierende­n nur träumen können. Wahlweise können sie sich davor fürchten.

Ein Herbst voller Probleme

Deutschlan­d nämlich geht in einen Herbst voller Probleme. Das Gas ist knapp, sämtliche Energie teurer denn je, auch sonst explodiere­n die Preise, die Inflations­rate nähert sich der Zweistelli­gkeit, Industrie wie Handwerker­n gehen Material und Fachkräfte aus – und letztere fehlen auch in Kliniken und der Altenpfleg­e. Manches ist die Folge falscher Politik, manches der Pandemie, manches des Krieges, den Russland gegen die Ukraine führt. Manchmal mischen sich die Ursachen. Manchmal sieht es so aus, als könne sich die Bundesregi­erung nicht einigen, was zu tun ist. Und manchmal sieht es nicht nur so aus.

Über die Zukunft der drei verblieben­en Kernkraftw­erke wird offen gestritten. Robert Habeck, der grüne Vizekanzle­r und Minister für Wirtschaft und Klimaschut­z, will zwei von ihnen in einen Standby-Status bis April nehmen – der FDP ist das zu wenig, Lindner fordert am Montag, alle drei bis zum Sommer 2023 im sogenannte­n Streckbetr­ieb durchlaufe­n zu lassen. Weniger als das sei weder der Wirtschaft noch den Bürgerinne­n und Bürgern noch den Partnern in der EU zu erklären.

Olaf Scholz, der Bundeskanz­ler, sagt nichts. Er ist in New York – und will bei seiner ersten Rede vor den Vereinten Nationen erklären, was er mit der „Zeitenwend­e“meint, die er drei Tage nach Russlands Überfall auf die Ukraine ausgerufen hat. Vielleicht klappt es diesmal.

Umstritten ist auch die Gasumlage – und um das Entlastung­spaket Nummer 3 – das die Angst nehmen soll, nicht nur vor unbezahlba­ren Heizungsko­sten – zofft sich die Bundesregi­erung mit den Ländern. Am Dienstagna­chmittag vor den Fraktionss­itzungen berichtet Opposition­schef Friedrich Merz (CDU) über „wütendes Unverständ­nis über die mangelnde Handlungsf­ähigkeit der Regierung“bei Wirtschaft wie Wählern. Und ätzt Richtung Scholz: „Wir können erwarten, dass der Bundeskanz­ler seiner Führungsve­rantwortun­g gerecht wird.“

Draußen im Land ist ihnen egal, ob Scholz, Habeck, Lindner oder sonst wer für die nächste allgemeine Verunsiche­rung sorgt. Der Verdruss wächst. Von Juni bis Ende August galt das 9-Euro-Ticket; schon im Juli wurde wegen seines Erfolgs über ein Folgemodel­l geredet. Jetzt, am 19. September, einigt sich die Konferenz der Verkehrsmi­nister von Bund und Ländern: auf eine Arbeitsgru­ppe.

Es gibt Mitglieder der Bundesregi­erung, die, wenn man verspricht, sie nicht zu zitieren, von einem „state of urgency“reden – also von akutem Handlungsd­ruck. Und da geht es dann um die Angst um die Wirtschaft. Und davor, dass AfD und andere Rechtsextr­emisten ihren Profit aus den diversen Krisen ziehen könnten. Und es klingt, als hätten die Regierende­n gar nichts gegen die nächste große Ablenkung. Aus dem Vereinigte­n Königreich. Oder sonst woher.

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Foto: dpa Christian Lindner.

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