Wer die Nachtigall stört
101
Atticus meinte allerdings, der Fall Robinson werde keine weiteren Folgen haben; über solche Dinge wüchse mit der Zeit Gras; nach und nach würden die Leute vergessen, dass Tom je ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.
Atticus mochte recht haben, aber die Geschehnisse des Sommers hingen über uns wie Rauch in einem geschlossenen Raum. Mit Jem und mir sprachen die Erwachsenen nie über den Fall, doch sie schienen ihn mit ihren Kindern zu erörtern, und zwar in dem Sinne, dass es nicht unsere Schuld sei, Atticus zum Vater zu haben, die Kinder müssten also trotz dieses Vaters nett zu uns sein. Von allein wären unsere Schulkameraden nie auf einen solchen Gedanken verfallen. Ohne die Einmischung der Eltern hätten Jem und ich mehrere rasche, befriedigende Faustkämpfe ausgefochten und die Sache ein für alle Mal hinter uns gehabt. So aber blieb uns nichts anderes übrig, als den Kopf hochzuhalten und ein Gentleman beziehungsweise eine Lady zu sein. Wir erlebten gewissermaßen eine zweite Ära Mrs. Henry Lafayette Dubose, nur ohne ihr Geschrei. Eines jedoch war sonderbar und unbegreiflich: Dieselben Leute, die Atticus als Vater für einen Versager hielten, wählten ihn auch diesmal in die Volksvertretung,
einstimmig, wie immer. Ich kam zu dem Schluss, dass die Menschen einfach sonderbar waren, zog mich von ihnen zurück und dachte nur dann an sie, wenn ich dazu gezwungen wurde.
Eines Tages wurde ich in der Schule dazu gezwungen. Wir hatten allwöchentlich eine Stunde „Zeitgeschehen“. Jeder Schüler musste zu Hause eine Zeitungsnotiz ausschneiden und sich mit dem Inhalt vertraut machen, um dann der Klasse darüber zu berichten.
Diese Übung vereinigte angeblich viele Vorteile in sich: Das Stehen vor den Klassengefährten wirkte sich günstig auf Haltung und sicheres Auftreten aus; das freie Sprechen machte wortbewusst; die intensive Beschäftigung mit dem jeweiligen Zeitungsartikel stärkte das Gedächtnis; die Tatsache, dass der Schüler von den anderen abgesondert war, weckte in ihm den Wunsch, in die Gemeinschaft zurückzukehren.
Eine tiefgründige Idee. Aber in Maycomb gab es, wie üblich, gewisse Schwierigkeiten. Vor allem kamen die wenigsten Landkinder an Zeitungen heran, und so mussten die Stadtkinder die Last des „Zeitgeschehens“tragen – was die anderen nur noch mehr davon überzeugte, dass sich die Lehrer ausschließlich um die „Städter“kümmerten. Die seltenen Beiträge der Landkinder stammten vorwiegend aus dem sogenannten Grit Paper, einem Blatt, von dem Miss Gates, unsere Lehrerin, gar nichts hielt. Ich wusste nicht, warum sie die Stirn runzelte, wenn ein Kind etwas aus dem Grit Paper vortrug, aber irgendwie hing es mit FiddleMusik zusammen, mit Sirupbiskuits zum Mittagessen, mit ekstatischem Sektierertum und dem Gesang von „Lieblich singt der Esel“– lauter Dinge, die zu unterbinden Aufgabe der vom Staat bezahlten Lehrkräfte war.
Viele Kinder wussten überhaupt nicht, was „Zeitgeschehen“bedeutete. Der kleine Chuck Little zum Beispiel, der sich mit Kühen und ihren Gewohnheiten wie ein Hundertjähriger auskannte, war mitten in einer Onkel-Natchell-Geschichte, als ihn Miss Gates unterbrach: „Charles, das ist doch kein Zeitgeschehen, sondern Reklame.“
Cecil Jacobs dagegen wusste Bescheid. Als er an die Reihe kam, ging er nach vorn und begann: „Der alte Hitler …“
„Adolf Hitler, Cecil“, verbesserte Miss Gates. „Man sagt nie ,der alte Soundso‘.“
„Ist gut, Miss Gates. Also, der alte Adolf Hitler, der die Juden befolgt …“
„Verfolgt, Cecil …“
„Nein, Miss Gates, hier steht … Na, egal. Der alte Adolf Hitler ist hinter den Juden her und steckt sie ins Gefängnis und nimmt ihnen alles weg und will keinen aus dem Land rauslassen und wäscht alle Schwachsinnigen und …“
„Er wäscht die Schwachsinnigen?“
„Jawohl, Miss Gates. Wahrscheinlich haben sie nicht genug Verstand, sich selber zu waschen, ich glaube jedenfalls nicht, dass sich ein Idiot sauberhalten kann. Ja, und der Hitler will jetzt auch alle Halbjuden zusammentreiben und sie auf ’ne Liste setzen, für den Fall, dass sie ihm Ärger machen, und ich finde das schlecht, und das ist mein Zeitgeschehen.“
„Sehr gut, Cecil“, lobte Miss Gates, und Cecil kehrte stolzgeschwellt auf seinen Platz zurück.
In einer der hinteren Reihen hob sich eine Hand. „Wieso darf er denn das?“
„Wer darf was?“, fragte Miss Gates geduldig.
„Ich meine, wieso darf der Hitler ’ne Menge Leute einfach einsperren? Gibt’s bei denen keine Regierung, die ihn dran hindert?“, erkundigte sich der Eigentümer der Hand.
„Hitler ist die Regierung“, erklärte Miss Gates. In dem Bestreben, den Unterricht systematisch zu gestalten, schrieb sie in großen Druckbuchstaben DEMOKRATIE an die Tafel. „Demokratie“, las sie vor. „Wer von euch weiß, was das ist?“
„Unser Land“, sagte jemand.
Ich meldete mich, denn ich erinnerte mich an eine alte Wahlkampfparole, über die Atticus einmal gesprochen hatte.
„Nun, Jean Louise, was bedeutet es deiner Meinung nach?“
„Für alle gleiche Rechte, für niemanden Vorrechte“, zitierte ich.
„Sehr gut, Jean Louise, sehr gut.“Miss Gates lächelte und malte dann vor DEMOKRATIE die Worte WIR SIND EINE. „So, Kinder, jetzt sagt mal alle zusammen: Wir sind eine Demokratie.“
Wir sagten es. „Seht ihr, das ist der Unterschied zwischen Amerika und Deutschland“, fuhr Miss Gates fort. „Wir sind eine Demokratie, und Deutschland ist eine Diktatur. Dik-ta-tur“, wiederholte sie.
„Hier bei uns wird niemand verfolgt. So etwas tun nur Leute mit Vorurteilen. Mit Vor-ur-tei-len“, artikulierte sie sorgfältig. „Es gibt keine besseren Menschen als die Juden, und warum Hitler das nicht einsieht, ist mir ein Rätsel.“
„Miss Gates, warum mögen die Leute in Deutschland keine Juden?“, fragte eine wissbegierige Seele.
Der DT Reckingen hat allen Grund zur Freude. Nach mehreren Jahren in der zweiten Liga mischt der Tischtennisverein nun wieder im Oberhaus mit. Neben dem sportlichen Aufstieg konnten die Vereinsverantwortlichen auch auf dem Transfermarkt für Furore sorgen. Hier gelang es ihnen, die Spieler Matas Skucas sowie Thomas Keinath für ihre erste Mannschaft unter Vertrag zu nehmen.
Besonders die Verpflichtung von Keinath dürfte sich auszahlen. Denn zusätzlich zu seiner Spielklasse kann der 44-jährige Routinier mit seiner wertvollen Erfahrung den Talenten im Team rund um Gene Wantz und Sean Portelada zum nächsten Schritt in ihrer Entwicklung verhelfen.
Dass der Neuzugang ein Glücksgriff ist, zeigte Keinath bereits am ersten Spieltag. Beim Ligaauftakt gegen Pokalsieger Roodt (5:5) fuhr der Deutsch-Slowake im vorderen Paarkreuz gegen Tessy Gonderinger
und Peter Musko zwei souveräne 3:0-Siege ein. Auch sein abschließendes Doppel mit Wantz gewann Keinath.
Der Kontakt zwischen Reckingen und dem Tischtennisspieler bestand schon seit einiger Zeit. Vereinspräsident Mike Kraus, der ebenfalls für die Jugendarbeit im Club zuständig ist, habe sich in der Vergangenheit immer mal wieder beim Rechtshänder gemeldet. „Der DT Reckingen und ich sind schon seit einigen Jahren in Kontakt. Mike hatte sich bereits mehrmals bei mir über meine Zukunftspläne erkundigt“, erklärte Keinath. „Da wir beide tischtennisverrückt sind
Egal, was ich mache, ich will immer gewinnen. So war das schon immer bei mir. Thomas Keinath
sel sei sein aktueller Karrierestand und die daraus resultierende Perspektive, die ihm der DT Reckingen biete. „Im Idealfall will ich hier für einige Jahre an die Platte treten und mich dann in den wohlverdienten Tischtennis-Ruhestand verabschieden. Ich fühle mich trotz meiner 44 Jahre weiterhin topfit“, verrät Keinath.
Zusätzlich zu seiner umfangreichen Erfahrung sieht Keinath seinen „guten Körper“, der ihn über die Jahre hinweg stets vor schwereren Verletzungen verschont habe, sowie seinen eisernen Siegeswillen als seine größten Stärken an: „Egal, was ich mache, ich will immer gewinnen. So war das schon immer bei mir.“
Der DT Reckingen und ich sind schon seit einigen Jahren in Kontakt. Thomas Keinath
Dank dieser Eigenschaften gelang es Keinath, immer wieder neue Titel auf der Profitour einzufahren. Sein Palmarès setzt sich mittlerweile aus Turniersiegen in Nordamerika, Europa und Asien zusammen. Vor Kurzem kam noch Südamerika dazu. Bei den Deaflympics, den Olympischen Spielen der Gehörlosen im Mai dieses Jahres in Brasilien, sicherte sich der 44-Jährige mit der Goldmedaille im Einzel den bis dato „größten und wichtigsten Erfolg“seiner Karriere.
Dass Keinath bei dieser Art von Wettbewerb teilnehmen darf, liegt an einem tragischen Schicksalsschlag, den er in seiner Kindheit erlitt: „Ich hatte im Alter von fünf Jahren eine Mittelohrentzündung. Seitdem höre ich nur noch zu 50 Prozent.“Mit der Zeit entwickelte er eine Technik, die Lippen seiner Mitmenschen zu lesen. Somit kann er trotz seines geringeren Hörvermögens die Personen in seiner Umgebung verstehen.
Starke Trainingspartner
Beim Spielen stört ihn sein Gehör jedoch trotzdem. „Es gibt Hallen, da höre ich den Ball fast gar nicht. Das ist vor allem in größeren Spielstätten der Fall. Ich habe dann kein gutes Gefühl beim Spielen. Die Balance zu halten, ist ebenfalls äußerst schwierig“, bedauert der zweimalige Gewinner der US Open, bevor er noch im gleichen Atemzug ergänzt: „Deshalb muss ich doppelt so viel trainieren wie die anderen.“
Um starke Trainingspartner muss sich der neue Reckinger Spitzenspieler allerdings keine Sorgen machen. Auf der Videoplattform Youtube findet man zahlreiche Videos, in denen sich Keinath mit den deutschen Tischtennisgrößen Timo Boll und Patrick Franziska spektakuläre Ballwechsel liefert.
„Ich wohne die meiste Zeit in Hanau, in der Nähe von Frankfurt am Main. Timo Boll lebt nur eine halbe Stunde von mir entfernt. Wir trainieren oft morgens unter der Woche. Abends trainiere ich manchmal noch mit Ruwen Filus (ebenfalls deutscher Nationalspieler und Abwehrspieler, Anm. d. Red.). Ich kann mich glücklich schätzen, dass sich solche Weltklasseleute in meiner Gegend befinden.“