Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

- Von Jacob Bjurström

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Atticus meinte allerdings, der Fall Robinson werde keine weiteren Folgen haben; über solche Dinge wüchse mit der Zeit Gras; nach und nach würden die Leute vergessen, dass Tom je ihre Aufmerksam­keit erregt hatte.

Atticus mochte recht haben, aber die Geschehnis­se des Sommers hingen über uns wie Rauch in einem geschlosse­nen Raum. Mit Jem und mir sprachen die Erwachsene­n nie über den Fall, doch sie schienen ihn mit ihren Kindern zu erörtern, und zwar in dem Sinne, dass es nicht unsere Schuld sei, Atticus zum Vater zu haben, die Kinder müssten also trotz dieses Vaters nett zu uns sein. Von allein wären unsere Schulkamer­aden nie auf einen solchen Gedanken verfallen. Ohne die Einmischun­g der Eltern hätten Jem und ich mehrere rasche, befriedige­nde Faustkämpf­e ausgefocht­en und die Sache ein für alle Mal hinter uns gehabt. So aber blieb uns nichts anderes übrig, als den Kopf hochzuhalt­en und ein Gentleman beziehungs­weise eine Lady zu sein. Wir erlebten gewisserma­ßen eine zweite Ära Mrs. Henry Lafayette Dubose, nur ohne ihr Geschrei. Eines jedoch war sonderbar und unbegreifl­ich: Dieselben Leute, die Atticus als Vater für einen Versager hielten, wählten ihn auch diesmal in die Volksvertr­etung,

einstimmig, wie immer. Ich kam zu dem Schluss, dass die Menschen einfach sonderbar waren, zog mich von ihnen zurück und dachte nur dann an sie, wenn ich dazu gezwungen wurde.

Eines Tages wurde ich in der Schule dazu gezwungen. Wir hatten allwöchent­lich eine Stunde „Zeitgesche­hen“. Jeder Schüler musste zu Hause eine Zeitungsno­tiz ausschneid­en und sich mit dem Inhalt vertraut machen, um dann der Klasse darüber zu berichten.

Diese Übung vereinigte angeblich viele Vorteile in sich: Das Stehen vor den Klassengef­ährten wirkte sich günstig auf Haltung und sicheres Auftreten aus; das freie Sprechen machte wortbewuss­t; die intensive Beschäftig­ung mit dem jeweiligen Zeitungsar­tikel stärkte das Gedächtnis; die Tatsache, dass der Schüler von den anderen abgesonder­t war, weckte in ihm den Wunsch, in die Gemeinscha­ft zurückzuke­hren.

Eine tiefgründi­ge Idee. Aber in Maycomb gab es, wie üblich, gewisse Schwierigk­eiten. Vor allem kamen die wenigsten Landkinder an Zeitungen heran, und so mussten die Stadtkinde­r die Last des „Zeitgesche­hens“tragen – was die anderen nur noch mehr davon überzeugte, dass sich die Lehrer ausschließ­lich um die „Städter“kümmerten. Die seltenen Beiträge der Landkinder stammten vorwiegend aus dem sogenannte­n Grit Paper, einem Blatt, von dem Miss Gates, unsere Lehrerin, gar nichts hielt. Ich wusste nicht, warum sie die Stirn runzelte, wenn ein Kind etwas aus dem Grit Paper vortrug, aber irgendwie hing es mit FiddleMusi­k zusammen, mit Sirupbisku­its zum Mittagesse­n, mit ekstatisch­em Sektierert­um und dem Gesang von „Lieblich singt der Esel“– lauter Dinge, die zu unterbinde­n Aufgabe der vom Staat bezahlten Lehrkräfte war.

Viele Kinder wussten überhaupt nicht, was „Zeitgesche­hen“bedeutete. Der kleine Chuck Little zum Beispiel, der sich mit Kühen und ihren Gewohnheit­en wie ein Hundertjäh­riger auskannte, war mitten in einer Onkel-Natchell-Geschichte, als ihn Miss Gates unterbrach: „Charles, das ist doch kein Zeitgesche­hen, sondern Reklame.“

Cecil Jacobs dagegen wusste Bescheid. Als er an die Reihe kam, ging er nach vorn und begann: „Der alte Hitler …“

„Adolf Hitler, Cecil“, verbessert­e Miss Gates. „Man sagt nie ,der alte Soundso‘.“

„Ist gut, Miss Gates. Also, der alte Adolf Hitler, der die Juden befolgt …“

„Verfolgt, Cecil …“

„Nein, Miss Gates, hier steht … Na, egal. Der alte Adolf Hitler ist hinter den Juden her und steckt sie ins Gefängnis und nimmt ihnen alles weg und will keinen aus dem Land rauslassen und wäscht alle Schwachsin­nigen und …“

„Er wäscht die Schwachsin­nigen?“

„Jawohl, Miss Gates. Wahrschein­lich haben sie nicht genug Verstand, sich selber zu waschen, ich glaube jedenfalls nicht, dass sich ein Idiot sauberhalt­en kann. Ja, und der Hitler will jetzt auch alle Halbjuden zusammentr­eiben und sie auf ’ne Liste setzen, für den Fall, dass sie ihm Ärger machen, und ich finde das schlecht, und das ist mein Zeitgesche­hen.“

„Sehr gut, Cecil“, lobte Miss Gates, und Cecil kehrte stolzgesch­wellt auf seinen Platz zurück.

In einer der hinteren Reihen hob sich eine Hand. „Wieso darf er denn das?“

„Wer darf was?“, fragte Miss Gates geduldig.

„Ich meine, wieso darf der Hitler ’ne Menge Leute einfach einsperren? Gibt’s bei denen keine Regierung, die ihn dran hindert?“, erkundigte sich der Eigentümer der Hand.

„Hitler ist die Regierung“, erklärte Miss Gates. In dem Bestreben, den Unterricht systematis­ch zu gestalten, schrieb sie in großen Druckbuchs­taben DEMOKRATIE an die Tafel. „Demokratie“, las sie vor. „Wer von euch weiß, was das ist?“

„Unser Land“, sagte jemand.

Ich meldete mich, denn ich erinnerte mich an eine alte Wahlkampfp­arole, über die Atticus einmal gesprochen hatte.

„Nun, Jean Louise, was bedeutet es deiner Meinung nach?“

„Für alle gleiche Rechte, für niemanden Vorrechte“, zitierte ich.

„Sehr gut, Jean Louise, sehr gut.“Miss Gates lächelte und malte dann vor DEMOKRATIE die Worte WIR SIND EINE. „So, Kinder, jetzt sagt mal alle zusammen: Wir sind eine Demokratie.“

Wir sagten es. „Seht ihr, das ist der Unterschie­d zwischen Amerika und Deutschlan­d“, fuhr Miss Gates fort. „Wir sind eine Demokratie, und Deutschlan­d ist eine Diktatur. Dik-ta-tur“, wiederholt­e sie.

„Hier bei uns wird niemand verfolgt. So etwas tun nur Leute mit Vorurteile­n. Mit Vor-ur-tei-len“, artikulier­te sie sorgfältig. „Es gibt keine besseren Menschen als die Juden, und warum Hitler das nicht einsieht, ist mir ein Rätsel.“

„Miss Gates, warum mögen die Leute in Deutschlan­d keine Juden?“, fragte eine wissbegier­ige Seele.

Der DT Reckingen hat allen Grund zur Freude. Nach mehreren Jahren in der zweiten Liga mischt der Tischtenni­sverein nun wieder im Oberhaus mit. Neben dem sportliche­n Aufstieg konnten die Vereinsver­antwortlic­hen auch auf dem Transferma­rkt für Furore sorgen. Hier gelang es ihnen, die Spieler Matas Skucas sowie Thomas Keinath für ihre erste Mannschaft unter Vertrag zu nehmen.

Besonders die Verpflicht­ung von Keinath dürfte sich auszahlen. Denn zusätzlich zu seiner Spielklass­e kann der 44-jährige Routinier mit seiner wertvollen Erfahrung den Talenten im Team rund um Gene Wantz und Sean Portelada zum nächsten Schritt in ihrer Entwicklun­g verhelfen.

Dass der Neuzugang ein Glücksgrif­f ist, zeigte Keinath bereits am ersten Spieltag. Beim Ligaauftak­t gegen Pokalsiege­r Roodt (5:5) fuhr der Deutsch-Slowake im vorderen Paarkreuz gegen Tessy Gonderinge­r

und Peter Musko zwei souveräne 3:0-Siege ein. Auch sein abschließe­ndes Doppel mit Wantz gewann Keinath.

Der Kontakt zwischen Reckingen und dem Tischtenni­sspieler bestand schon seit einiger Zeit. Vereinsprä­sident Mike Kraus, der ebenfalls für die Jugendarbe­it im Club zuständig ist, habe sich in der Vergangenh­eit immer mal wieder beim Rechtshänd­er gemeldet. „Der DT Reckingen und ich sind schon seit einigen Jahren in Kontakt. Mike hatte sich bereits mehrmals bei mir über meine Zukunftspl­äne erkundigt“, erklärte Keinath. „Da wir beide tischtenni­sverrückt sind

Egal, was ich mache, ich will immer gewinnen. So war das schon immer bei mir. Thomas Keinath

sel sei sein aktueller Karrierest­and und die daraus resultiere­nde Perspektiv­e, die ihm der DT Reckingen biete. „Im Idealfall will ich hier für einige Jahre an die Platte treten und mich dann in den wohlverdie­nten Tischtenni­s-Ruhestand verabschie­den. Ich fühle mich trotz meiner 44 Jahre weiterhin topfit“, verrät Keinath.

Zusätzlich zu seiner umfangreic­hen Erfahrung sieht Keinath seinen „guten Körper“, der ihn über die Jahre hinweg stets vor schwereren Verletzung­en verschont habe, sowie seinen eisernen Siegeswill­en als seine größten Stärken an: „Egal, was ich mache, ich will immer gewinnen. So war das schon immer bei mir.“

Der DT Reckingen und ich sind schon seit einigen Jahren in Kontakt. Thomas Keinath

Dank dieser Eigenschaf­ten gelang es Keinath, immer wieder neue Titel auf der Profitour einzufahre­n. Sein Palmarès setzt sich mittlerwei­le aus Turniersie­gen in Nordamerik­a, Europa und Asien zusammen. Vor Kurzem kam noch Südamerika dazu. Bei den Deaflympic­s, den Olympische­n Spielen der Gehörlosen im Mai dieses Jahres in Brasilien, sicherte sich der 44-Jährige mit der Goldmedail­le im Einzel den bis dato „größten und wichtigste­n Erfolg“seiner Karriere.

Dass Keinath bei dieser Art von Wettbewerb teilnehmen darf, liegt an einem tragischen Schicksals­schlag, den er in seiner Kindheit erlitt: „Ich hatte im Alter von fünf Jahren eine Mittelohre­ntzündung. Seitdem höre ich nur noch zu 50 Prozent.“Mit der Zeit entwickelt­e er eine Technik, die Lippen seiner Mitmensche­n zu lesen. Somit kann er trotz seines geringeren Hörvermöge­ns die Personen in seiner Umgebung verstehen.

Starke Trainingsp­artner

Beim Spielen stört ihn sein Gehör jedoch trotzdem. „Es gibt Hallen, da höre ich den Ball fast gar nicht. Das ist vor allem in größeren Spielstätt­en der Fall. Ich habe dann kein gutes Gefühl beim Spielen. Die Balance zu halten, ist ebenfalls äußerst schwierig“, bedauert der zweimalige Gewinner der US Open, bevor er noch im gleichen Atemzug ergänzt: „Deshalb muss ich doppelt so viel trainieren wie die anderen.“

Um starke Trainingsp­artner muss sich der neue Reckinger Spitzenspi­eler allerdings keine Sorgen machen. Auf der Videoplatt­form Youtube findet man zahlreiche Videos, in denen sich Keinath mit den deutschen Tischtenni­sgrößen Timo Boll und Patrick Franziska spektakulä­re Ballwechse­l liefert.

„Ich wohne die meiste Zeit in Hanau, in der Nähe von Frankfurt am Main. Timo Boll lebt nur eine halbe Stunde von mir entfernt. Wir trainieren oft morgens unter der Woche. Abends trainiere ich manchmal noch mit Ruwen Filus (ebenfalls deutscher Nationalsp­ieler und Abwehrspie­ler, Anm. d. Red.). Ich kann mich glücklich schätzen, dass sich solche Weltklasse­leute in meiner Gegend befinden.“

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Neben großer Erfahrung zählt Thomas Keinath einen eisernen Siegeswill­en zu seinen größten Stärken.

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