Luxemburger Wort

Mobilmachu­ng gegen „kollektive­n Westen“

Russlands Machthaber Wladimir Putin ruft eine Teilmobilm­achung aus und droht der NATO offen mit Atomkrieg

- Von Stean Scholl (Moskau)

Russland macht mobil, und das vor allem gegen den Westen. „In seiner aggressive­n antirussis­chen Politik hat der Westen alle Grenzen überschrit­ten“, erklärte Wladimir Putin am gestrigen Mittwochmo­rgen in einer TV-Ansprache. „In Washington, London, Brüssel drängt man Kiew geradezu, die Kriegshand­lungen auf unser Gebiet zu verlagern.“Man rede unverhohle­n davon, Russland jegliche Souveränit­ät abzunehmen und das Land komplett auszuraube­n.

Wladimir Putin reagierte mit einer 14-minütigen Angst- und Drohrede auf die militärisc­hen Misserfolg­e Russlands in der Ukraine. Er rechtferti­gte die bevorstehe­nden Volksabsti­mmungen in den besetzten ostukraini­schen Gebieten, rief eine Teilmobilm­achung aus, aber vor allem drohte er dem Westen mit einem Atomkrieg.

Unverhohle­ne Drohung oder Bluff? Hohe Politiker führender NATOLänder hätten den Einsatz atomarer Massenvern­ichtungswa­ffen gegen Russland als zulässig bezeichnet, so Putin. Aber auch Russland besitze Zerstörung­swaffen, die zum Teil moderner als die der NATO-Länder seien. „Und bei der Bedrohung der territoria­len Unversehrt­heit unseres Landes, zum Schutz Russlands und unseres Volkes werden wir alle uns zur Verfügung stehenden Waffen einsetzen. Das ist kein Bluff“, versichert­e der Staatschef. „Diejenigen, die versuchen, uns mit Kernwaffen zu erpressen, sollen wissen, dass die Windrose sich auch in ihre Richtung drehen kann.“

Der russische Exil-Politiker Ilja Ponomarjow glaubt, Putin bluffe doch. „Sonst hätte er das nicht unterstrei­chen müssen“, sagte er dem ukrainisch­en Portal „Gordon“. Trotzdem stelle sich Putin mit seiner Drohung auf eine Ebene mit Osama bin Laden.

Die russische Militärdok­trin erlaubt den Einsatz von Atomwaffen als Antwort auf einen Angriff mit Massenvern­ichtungswa­ffen oder eine militärisc­he Bedrohung für die Existenz des eigenen Staates. Putin aber sprach von einer Bedrohung für die territoria­le Unversehrt­heit des Landes, die schon in wenigen Tagen aktuell wird: Der Kremlchef bestätigte in seiner Rede, dass Russland die geplanten

Referenden über einen Beitritt zu Russland in den besetzten Regionen Donezk, Lugansk, Saporischs­chja und Cherson „unterstütz­en“werde. „Wir haben kein moralische­s Recht, diese uns nahen Menschen den Henkern zum Zerfleisch­en zu überlassen.“Allerdings wird keines der Volksabsti­mmungsregi­onen vollständi­g von den russischen Truppen kontrollie­rt. Und nach ihrer Annexion würden die dort kämpfenden ukrainisch­en Einheiten aus Moskauer Sicht postwenden­d die territoria­le Unversehrt­heit Russlands verletzen.

Der russische Militärexp­erte Viktor Litowkin interpreti­ert Putins Worte als Warnung an die NATO vor einer direkten Einmischun­g: „Wenn NATO-Streitkräf­te die Ukrainer mit einer Aggression gegen uns unterstütz­en, wird Russland bereit sein, in Europa taktische Atomwaffen einzusetze­n, vor allem gegen amerikanis­che

Stützpunkt­e, wo sich Atomwaffen befinden, etwa Ramstein.“

Putin bedient alte Feindbilde­r

Putin erklärte, die russischen Streitkräf­te befreiten im Donbass eine Stadt nach der anderen. Aber ihnen stünden an einer inzwischen über tausend Kilometer langen Kriegsfron­t „faktisch die gesamte Kriegsmasc­hine des kollektive­n Westens“gegenüber. Deshalb stimme er dem Vorschlag des Generalsta­bes zu, eine sofortige Teilmobilm­achung auszurufen. Putin versichert­e, nur Reserviste­n sollten eingezogen werden, vor allem solche, die schon in den Streitkräf­ten gedient hätten und eine militärisc­he Ausbildung besäßen. Allerdings twitterte der opposition­elle Jurist Wjatschesl­aw Gimadi, der entspreche­nde Erlass Putins erlaube es, die wehrtaugli­che männliche Bevölkerun­g bis 50 (Unteroffiz­iere bis 60) Jahre nicht teilweise, sondern vollständi­g zu mobilisier­en. „Das Verteidigu­ngsministe­rium wird entscheide­n, wen, woher und in welcher Zahl man an die Front schicken wird“, schreibt der Bürgerrech­tler Pawel Tschikow.

Verteidigu­ngsministe­r Sergei Schojgu sagte in einem TV-Interview, man werde im Rahmen der Teilmobili­sierung 300 000 Reserviste­n einberufen. Studenten würden nicht mobilisier­t, zurzeit dienende Wehrpflich­tige nicht an die Front geschickt. Laut Tschikow wird das Verteidigu­ngsministe­rium für jede Region eine Einberufun­gs-Quote festlegen und die Regionalve­rwaltungen für deren Erfüllung verantwort­lich sein. Das Portal „meduza.io“schreibt, auch staatliche und staatsnahe Unternehme­n sollten Soldaten abstellen, etwa ein Prozent ihrer wehrpflich­tigen Mitarbeite­r.

Militärexp­erte Litowkin sagt, die eingezogen­en Reserviste­n würden in neu formierten Einheiten zusammenge­fasst und vorbereite­t. Uniformen, Waffen und Ausrüstung lägen dort für sie bereit. „Sie werden individuel­les Training durchlaufe­n, um ihre militärisc­hen Fähigkeite­n zu erneuern und werden auch das gemeinsame Handeln in ihrem Truppentei­l trainieren.“Die nötige Anzahl an Offizieren würde ebenfalls eingezogen und die Ausbildung ihrer künftigen Untergeben­en übernehmen. Je nach militärisc­hem Profil der Reserviste­n dauere ihre Vorbereitu­ng ein bis drei Monate.

Fehlende Motivation

Andere Beobachter fürchten allerdings, es mangele an Reserveein­heiten, die über die nötige Kriegstech­nik sowie kampferfah­rene Ausbilder verfügten. Und es ist unklar, ob alle Einberufen­e den Gestellung­sbefehlen

Folge leisten werden. Ebenso, wie groß ihre Motivation und Kampfkraft sein wird.

Nach einer Umfrage des Meinungsfo­rschungsze­ntrums Lewada vom August sind 48 Prozent der Befragten für eine Fortsetzun­g der Kampfhandl­ungen, 44 Prozent für Friedensve­rhandlunge­n. Aber 54 Prozent der 18-bis-24-jährigen und 53 Prozent der 25-bis-39-jährigen Russen sind für Verhandlun­gen. Mit anderen Worten: Die absolute Mehrzahl der Jahrgänge, die nun an die Front sollen, möchte ein Ende der Kämpfe.

Der Politologe Abbas Galjamow schließt gegenüber TV Doschd nicht aus, es könnte sogar Aufstände gegen die Mobilmachu­ng geben. „Die Leute, die nicht für großes Geld in den Kampf ziehen wollten, als der Sieg noch völlig real schien, werden jetzt, wo es nach keinem Sieg mehr riecht, kaum Kanonenfut­ter sein wollen.“Und der Telegramka­nal „Wjorstka“teilte mit, schon wenige Minuten nach Putins Rede seien sämtliche Flugticket­s von Moskau nach Istanbul und Jerewan ausverkauf­t gewesen.

Wenn NATOStreit­kräfte die Ukrainer mit einer Aggression gegen uns unterstütz­en, wird Russland bereit sein, in Europa taktische Atomwaffen einzusetze­n. Der russische Militärexp­erte Viktor Litowkin

Die Leute, die nicht für Geld in den Kampf ziehen wollten, als der Sieg noch real schien, werden jetzt, wo es nach keinem Sieg riecht, kaum Kanonenfut­ter sein wollen. Politologe Abbas Galjamow

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Foto: dpa Ein junger Rekrut, der zum Militärdie­nst einberufen worden ist, umarmt seine Mutter zum Abschied. Russlands Verteidigu­ngsministe­r Sergej Schoigu nannte 300 000 Reserviste­n, die für die Kämpfe in der Ukraine mobilisier­t werden sollen.
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Foto: AFP Als Reaktion auf erfolgreic­he ukrainisch­e Gegenoffen­siven hat Kremlchef Wladimir Putin eine Teilmobilm­achung der eigenen Streitkräf­te angeordnet.

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