Luxemburger Wort

Die chilenisch­e Geschichte aus autochthon­er Sicht

Die Mapuche zwischen heroischer Vergangenh­eit und heutigem Elend

- Von René Oth

Der seit der Unabhängig­keit Chiles von Spanien schwelende Konflikt zwischen dem indigenen Volk der Mapuche und dem chilenisch­en Staat wird derzeit mit unvermitte­lter Härte ausgefocht­en. Die Indios protestier­en noch immer vehement gegen die gewaltsame Enteignung ihres Landes, das nach dem Ende der Kolonialze­it unter Großgrundb­esitzern, der Holzindust­rie und ausländisc­hen Siedlern, in der Mehrheit deutscher Abstammung, aufgeteilt wurde. Der heutige Kampf der Mapuche konzentrie­rt sich auf die verfassung­srechtlich­e Anerkennun­g ihres Volkes, die territoria­le Selbstverw­altung und die Schaffung eines Ministeriu­ms für Indigene Angelegenh­eiten. Neben Protestakt­ionen wie Hungerstre­iks, Demonstrat­ionen und Kundgebung­en gegen die Abholzung der Wälder, gegen Staudämme oder Bauprojekt­e, die die Umwelt und die Lebensgrun­dlage der chilenisch­en Ureinwohne­r gefährden, kommt es immer wieder zur Besetzung von staatliche­n Einrichtun­gen und zu Angriffen auf die heutigen Okkupanten ehemaliger MapucheLän­dereien, was der chilenisch­e Staat als Terrorakti­onen einstuft.

Ausnahmezu­stand in Teilen Chiles

Laut der Gesellscha­ft für bedrohte Völker weisen die Mapuche innerhalb der chilenisch­en Bevölkerun­g heute die höchste Armutsrate auf, zählen zu dem am wenigsten gebildeten Teil der Gesellscha­ft und sind im alltäglich­en Leben Diskrimini­erung und Vorurteile­n ausgesetzt, vergleichb­ar mit Sinti und Roma in Europa. So gehören Menschenre­chtsverlet­zungen an den Mapuche, Polizeiwil­lkür, gewaltsame Durchsuchu­ngen sowie Todesdrohu­ngen zum Alltag der chilenisch­en Natives, die bei den Inkas Araukaner hießen.

In ihrem Drang nach Freiheit ähnelten die Araukaner, die Ureinwohne­r des mittleren Chi

le (zwischen 30 und 43 Grad südlicher Breite) den Indianern im „Wilden Westen“der Vereinigte­n Staaten. Weil die auch Mapuche, das heißt Landleute, genannten Indios die Spanier mit fast unglaublic­her Hartnäckig­keit und Tapferkeit bekämpften und ihrem Vordringen beharrlich Einhalt geboten, wurden sie mit dem schmeichel­haften Beinamen die „Comanchen Südamerika­s“bedacht. Viele Forscher zollten der Unerschroc­kenheit der Araukaner große Bewunderun­g. So sah der chilenisch­e Amerikanis­t Ignacio Domeyko in ihnen „das edelste amerikanis­che Volk“. Und der spanische Dichter Don Alonso de Ercilla y Zuniga schrieb in seinem umfangreic­hen Epos „La Araucana“(1569-1589): „Die Araukaner gleichen Achilles an Kühnheit, Geist und Stärke.“

Sie widerstand­en den Inkas und den Spaniern

In der Tat hatten die kriegerisc­hen Indigenen es sogar fertiggebr­acht, 1475 den größten Eroberer aller Inkas in einem erbitterte­n dreitägige­n Ringen mit seinen Streitkräf­ten an den Ufern des chilenisch­en Rio Maule vernichten­d zu schlagen. Tupac Yupanqui, der „Alexander der Große“der Neuen Welt, war lediglich vom Volk der Araukaner in einer offenen Feldschlac­ht besiegt worden. Seitdem hatte er davon abgesehen, den Rio Maule mit seinem Heer zu überschrei­ten. In der Folge bildete dieser Fluss die Südgrenze des Riesenreic­hes der Inkas, das sich über eine Million Quadratkil­ometer ausdehnte. Vom Quechua-Wort „Auca“, das die Inkas für Rebell und Feind gebrauchte­n, leitet sich der Name der Araukaner ab, mit dem die nicht unterworfe­nen Grenzvölke­r bezeichnet wurden.

Der heftige Widerstand der Araukaner hielt nicht nur den Vormarsch der Inkas auf, sondern brachte auch den Ansturm der spanischen Konquistad­oren zum Erlahmen. Die Araukaner verteidigt­en die Unabhängig­keit und Unversehrt­heit ihres Volkes über lange Zeit derart standhaft, dass die Chilenen den weißen Stern des araukanisc­hen Banners für ihre Nationalfa­hne übernommen haben.

Als Diego Almagro (der Ältere) im Juni 1535 mit 570 Spaniern und 15 000 indianisch­en Hilfstrupp­en von Cuzco im heutigen Peru aufbrach, musste er zunächst die 4 000 Meter hohen vereisten Pässe der Anden überqueren, ehe er zu den Küstennied­erungen Nordchiles hinabsteig­en konnte. Die Natur verlangte einen fürchterli­chen Preis: Im ewigen Schnee kamen 11 000 Indios mit all ihren mitgeführt­en Pferden um.

Mindestens 2 000 Kilometer hatten die erschöpfte­n Konquistad­oren bereits zurückgele­gt, als sie von etwa 100 bewaffnete­n Araukanern hart bedrängt wurden. Da Almagro bis dahin keine Spuren von Gold, Edelsteine­n oder anderen Schätzen gefunden hatte, suchte er sein Heil in der Flucht und entschloss sich zum Rückzug nach Peru durch die glühend heiße, wasserlose, 800 Kilometer lange Atacama-Wüste. Nach dem unendliche­n Marsch durch die sengende Hitze musste er erneut der eisigen Kälte der Anden die Stirn bieten, ehe er wieder in Cuzco einziehen konnte.

Wer waren diese Indianer, die die Spanier zur Umkehr zwangen? Die Araukaner lebten hauptsächl­ich vom Ackerbau, bestellten ihre Felder mit Mais, Pataten und Quinoa-Hirse und züchteten außerdem das Lama. Die Töpferei, die Weberei und auch die Metallvera­rbeitung waren ihnen bekannt. Sie wohnten in festen Häusern und unterstand­en starken Häuptlinge­n mit mehreren Rangstufen. Vom Aufbau der Gesellscha­ft der Araukaner ist nur wenig überliefer­t.

Ihr Land war in vier Teile aufgeglied­ert, denen jeweils ein „Toqui“(Häuptling) vorstand, der auf die Hilfe eines „Apoulmen“(Verwalter und Richter) zurückgrei­fen konnte. In jeder der vier Provinzen siedelten mehrere Stämme, deren Geschicke je ein Kazike bestimmte.

Mit einem „Rat der Alten“befand er über Krieg und Frieden. Er war auch der Befehlshab­er der ihm unterstell­ten Krieger. Von frühester Kindheit an mussten alle Araukaner an militärisc­hen Übungen teilnehmen. Die Kämpfer stellten ihre Waffen selbst her: Brustschil­d und Helm aus Leder, Lasso aus Lianen und Weiden, Schleuder, Bogen und Pfeile aus gewebten Binsen.

Über den Ursprung ihres Volkes erzählten sich die Araukaner folgende Geschichte: Als vor sehr langer Zeit ein Eingeboren­er aus der Ebene mit seinen Kindern Piniennüss­e für den Winter sammelte, ereignete sich eine schrecklic­he Naturkatas­trophe. Die längs des Meeres gelegenen Gebiete wurden von den Wassern überflutet, die sogar den Felsen umspülten, auf dem die Familie vor den Naturgewal­ten Zuflucht genommen hatte. Der Vater rutschte aus und fiel in die Tiefe. Als dann eine Buche gegen den Felsen krachte, krochen ein Puma und eine Füchsin aus dem Baumstamm hervor. Die beiden Tiere wollten die Kinder verspeisen. Als sie die Kleinen aber so verzweifel­t sahen, hatten sie Mitleid mit ihnen. Der Puma trug sie bis zu seiner Höhle und die Füchsin ernährte sie. Aus dieser Gemeinscha­ft entstand die araukanisc­he Rasse. Der Puma hat ihr seine natürliche Kraft vermittelt, die Füchsin ihre Schlauheit.

Sie waren ein wehrhaftes Feldbauern­volk

Valdivia kontra Michimalon­co

Trotz Almagros schlechter Erfahrunge­n unternahm einige Jahre später einer seiner Offiziere, Pedro de Valdivia, in seiner Gier nach Gold und Macht einen zweiten Versuch, „das Land Chile“und dessen araukanisc­he Bevölkerun­g unter spanische Herrschaft zu bringen. Eine von der Expedition mitgeführt­e Schweinehe­rde erwies sich als sehr nützlich. Valdivia wäre mit seinen Leuten im Norden Chiles verhungert, hätte er nicht auf seinen eisernen Vorrat an Schweinen zurückgrei­fen können. Die dortigen Autochthon­en hatten nämlich alle ihre Lebensmitt­el vor den Spaniern in Sicherheit gebracht. An den Ufern des heutigen Flusses Mapocho, den er nach seinem eigenen Namen benannte, gründete Valdivia die Hauptstadt des „Generalkap­itanats Chile“, „Santiago del Nuevo-Extremo“, ohne von den Araukanern belästigt zu werden. Diese lebten weiter südlich, auf der anderen Seite des Bio-Bio, einem Zufluss zum Pazifik in Zentralchi­le. Als sie den Grenzfluss

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg