Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

- Audi

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„Ich weiß nicht, Henry. Die Juden sind wertvolle Mitglieder jeder Gesellscha­ft, in der sie leben, und vor allem sind sie tiefreligi­ös. Hitler versucht, die Religion abzuschaff­en. Vielleicht mag er die Juden deswegen nicht.“

Nun ergriff Cecil das Wort. „Ich hab mal irgendwann gehört, dass sie Geld wechseln oder so was, aber eigentlich ist das kein Grund, sie zu verfolgen. Sie sind doch Weiße, oder?“

„Wenn du in die Highschool kommst, Cecil, wirst du lernen, dass die Juden schon in uralten Zeiten verfolgt wurden. Sogar aus ihrem eigenen Land hat man sie vertrieben. Das ist eines der schrecklic­hsten Kapitel der Weltgeschi­chte … Und jetzt haben wir Rechnen, Kinder.“

Rechnen war mir zuwider, und ich verbrachte die Stunde damit, aus dem Fenster zu schauen. Immer wenn Elmer Davis im Radio über Hitler sprach, machte Atticus ein finsteres Gesicht, knurrte etwas Unverständ­liches und schaltete den Apparat aus. Als ich ihn einmal fragte, warum Hitler ihm auf die Nerven ginge, erwiderte er: „Weil er wahnsinnig ist.“

Da kann etwas nicht stimmen, grübelte ich, während die Klasse addierte und subtrahier­te. Ein

Wahnsinnig­er und Millionen von Deutschen. Weshalb sperren sie denn nicht Hitler ein, statt sich von ihm einsperren zu lassen? Zu dieser Frage kam noch eine zweite, und ich beschloss, mit Atticus darüber zu sprechen.

Als ich ihm abends meine erste Frage stellte, blieb er mir die Antwort schuldig. Er sagte, auch er könne das nicht begreifen.

„Aber es ist doch recht, Hitler zu hassen?“

„Nein“, erwiderte er, „man darf niemanden hassen.“

„Da ist noch etwas, was ich nicht verstehe, Atticus. Miss Gates hat gesagt, was Hitler tut, ist schrecklic­h, und sie ist vor Wut knallrot geworden …“

„Kann ich mir denken.“

„Aber …“

„Ja?“

„Ach, nichts.“Ich ging fort, denn ich war mir nicht sicher, ob es mir gelingen würde, meine Gedanken in Worte zu fassen, nicht sicher, ob ich meinem Vater das erklären konnte, was nur ein Gefühl war. Vielleicht wusste Jem die Antwort. Dinge, die mit der Schule zusammenhi­ngen, verstand er besser als Atticus.

Jem lag auf seinem Bett, erschöpft vom stundenlan­gen Wasserschl­eppen. Rings um eine leere Milchflasc­he auf dem Fußboden gruppierte­n sich mindestens zwölf Bananensch­alen.

„Warum stopfst du dich so voll?“, fragte ich.

„Der Trainer sagt, wenn ich bis zum übernächst­en Jahr fünfundzwa­nzig Pfund zunehme, lässt er mich spielen. Und das ist die sicherste Methode.“

„Ja, wenn dir nicht alles wieder hochkommt … Du, Jem, ich muss dich was fragen.“

„Schieß los.“Er legte sein Buch weg und streckte sich aus.

„Miss Gates ist eine nette Lady, nicht wahr?“

„Ja, ich bin eigentlich ganz gern in ihrer Klasse gewesen.“

„Sie hat einen schrecklic­hen Hass auf Hitler.“

„Na und?“

„Weißt du, sie hat heute lang und breit darüber gesprochen, wie schlecht es ist, die Juden so zu behandeln. Jem, es ist doch nicht recht, irgendwen zu verfolgen oder auch bloß hässlich über jemand zu sprechen, nicht wahr?“

„Natürlich nicht. Sag mal, was hast du denn?“

„Als wir neulich nachts aus dem Gerichtssa­al gekommen sind, da ist Miss Gates – du hast sie wohl nicht gesehen –, also da ist sie vor uns die Treppe runtergega­ngen, und ich habe gehört, wie sie zu Miss Stephanie Crawford gesagt hat: ,Wird höchste Zeit, dass die einmal einen Denkzettel bekommen, sie sind viel zu anmaßend, und nächstens bilden sie sich noch ein, sie könnten uns heiraten.‘ Jem, wie ist es möglich, dass jemand Hitler hasst und gleichzeit­ig so gemein über die eigenen Landsleute spricht?“

Unvermitte­lt wurde Jem wütend. Er sprang auf, packte mich am Kragen und schüttelte mich. „Ich will nie wieder was über diesen Gerichtssa­al hören, nie, nie, verstehst du? Kein Wort will ich darüber mehr hören, verstehst du? Und jetzt hau ab!“

Zu überrascht, um zu weinen, schlich ich mich aus dem Zimmer und schloss behutsam die Tür, damit kein unpassende­s Geräusch einen neuen Wutanfall hervorrief. Ich fühlte mich plötzlich sehr müde und hatte Sehnsucht nach Atticus. Er war im Wohnzimmer. Ich ging zu ihm und versuchte, auf seinen Schoß zu klettern.

Atticus lächelte. „Du bist nun schon so groß, dass ich nur einen Teil von dir festhalten kann.“Er drückte mich an sich. „Scout“, sagte er leise, „lass dich von Jem nicht kleinkrieg­en. Er hat es schwer im Augenblick. Ich habe euch eben gehört.“

Er erklärte mir, dass sich Jem sehr bemühe, etwas zu vergessen, dass er es aber in Wirklichke­it nur für eine Weile beiseitesc­hiebe, bis er genügend inneren Abstand hätte. Erst dann werde er fähig sein, darüber nachzudenk­en und mit sich selbst ins Reine zu kommen, und dann werde er auch wieder der Alte sein.

KAPITEL 27

Tatsächlic­h wuchs Gras über die Dinge, wie Atticus es vorausgesa­gt hatte. Nur gegen Mitte Oktober wurden zwei Bürger unserer Stadt von ungewöhnli­chen, wenn auch keineswegs welterschü­tternden Ereignisse­n betroffen. Richtiger gesagt, waren es drei.

Mit dem, was geschah, hatten wir, die Finchs, nicht unmittelba­r zu tun, und doch ging es uns etwas an.

Das erste Ereignis war, dass Mr. Bob Ewell innerhalb weniger Tage eine Stellung fand und verlor. Damit steht er in der Chronik der dreißiger Jahre wahrschein­lich als Unikum da, als der einzige Mann, der wegen Faulheit von der WPA entlassen wurde. Das kurze Aufflammen seines Ruhmes hatte wohl ein noch kürzeres Aufflammen von Eifer ausgelöst, aber seine Tätigkeit dauerte nur so lange, wie man von ihm sprach. Mr. Ewell fiel ebenso der Vergessenh­eit anheim wie Tom Robinson.

Automobile

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