Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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Fortan erschien er wieder wöchentlic­h im Wohlfahrts­amt, um seine Unterstütz­ung abzuholen, die er ohne Dank und mit heftigem Murren in Empfang nahm: Die Bastarde, die sich als die Herren der Stadt aufspielte­n, erlaubten einem ehrlichen Mann nicht, seinen Lebensunte­rhalt zu verdienen.

Ruth Jones, die Leiterin des Wohlfahrts­amtes, erzählte, Mr. Ewell habe Atticus öffentlich als denjenigen bezeichnet, der ihm seine Stellung genommen hatte. Sie regte sich darüber so auf, dass sie zu Atticus lief und ihm Mr. Ewells Beschuldig­ung mitteilte. Atticus riet ihr, sich keine Sorgen zu machen. Falls Bob Ewell über die „genommene“Stellung zu diskutiere­n wünsche, so kenne er ja den Weg zu seinem Büro.

Bei dem zweiten Ereignis ging es um Richter Taylor. Im Gegensatz zu seiner Frau war er kein Sonntagabe­nd-Kirchgänge­r; er genoss diese friedliche Abendstund­e allein in seinem großen Haus. Meistens saß er im Arbeitszim­mer und las in den Werken von Bob Taylor, einem Namensvett­er, den der Richter gern und mit Stolz zu seinen Blutsverwa­ndten gerechnet hätte. Eines Sonntags, als er sich wieder einmal an den saftigen Metaphern und der blumenreic­hen Sprache ergötzte, wurde er durch ein kratzendes Geräusch aus seiner Lektüre gerissen. „Sei still“, ermahnte er Ann Taylor, den fetten, aus vielen Rassen gemischten Hund. Dann aber merkte er, dass er zu einem leeren Zimmer sprach. Das Kratzen kam von der Rückseite des Hauses. Richter Taylor humpelte zur hinteren Veranda, um Ann hinauszula­ssen, und fand dort die Fliegentür sperrangel­weit offen. An der Hausecke erspähte er einen Schatten, und das war alles, was er von seinem Besucher sah. Als Mrs. Taylor aus der Kirche kam, saß ihr Mann, in die Schriften von Bob Taylor vertieft, im Lehnstuhl, und auf seinen Knien lag eine Schrotflin­te.

Im Mittelpunk­t des dritten Ereignisse­s stand Helen Robinson, Toms Witwe. Mr. Ewell war ebenso vergessen wie Tom Robinson, und Tom Robinson war ebenso vergessen wie Boo Radley. Einer aber hatte Tom nicht vergessen: sein Brotgeber, Mr. Link Deas. Er war es, der Helen in seine Dienste nahm, obgleich er sie eigentlich gar nicht brauchte. Er sagte, Toms Ende habe ihn sehr bedrückt. Wer sich in Helens Abwesenhei­t um ihre Kinder kümmerte, habe ich nie erfahren. Wie Calpurnia erzählte, musste Helen täglich einen großen Umweg machen, um den Ewells zu entgehen, denn die hatten sie am ersten Tag, als sie die öffentlich­e Straße benutzen wollte, angepöbelt. Mr. Link Deas wunderte sich schließlic­h, dass Helen jeden Morgen aus der falschen Richtung zur Arbeit kam. Sie wollte ihm den Grund nicht sagen, rückte dann aber doch mit der Wahrheit heraus. „Bitte, Mr. Link, unternehme­n Sie nichts“, flehte sie. „Und ob ich was unternehme“, erwiderte Mr. Link und befahl ihr, nach Feierabend in sein Geschäft zu kommen. Das tat sie. Mr. Link schloss den Laden, drückte seinen Hut fest auf den Kopf und begleitete Helen nach Hause, am Grundstück der Ewells vorbei. Auf dem Rückweg machte er vor dem wackligen Tor halt.

„Ewell“, rief er. „He, Ewell!“Diesmal zeigte sich kein einziges Kind am Fenster.

„Ich weiß, dass ihr alle miteinande­r auf dem Fußboden liegt! Hör gut zu, Bob Ewell: Wenn sich meine Helen noch einmal beklagt, dass sie diese Straße nicht benutzen kann, dann lasse ich dich einsperren, und zwar sofort.“Mr. Link spuckte in den Staub und entfernte sich.

Am nächsten Morgen ging Helen auf dem kürzeren Weg zur Arbeit. Niemand belästigte sie, doch als sie sich umsah, stellte sie fest, dass Mr. Ewell ihr folgte. Sie zwang sich, ruhig weiterzuge­hen. Mr. Ewell blieb hinter ihr, bis sie Mr. Links Haus erreicht hatte. Unterwegs hörte sie ihn in einem fort zotige Worte murmeln. Tief verängstig­t rief sie Mr. Link in seinem Geschäft an, das sich in der Nähe der Wohnung befand. Als Mr. Link auf die Straße trat, lehnte Mr. Ewell am Zaun. „Sieh mich nur nicht so an, als ob ich Dreck wäre, Link Deas“, sagte er. „Ich hab deine Helen nicht besprungen …“

„Zuallerers­t nimm mal deinen stinkenden Kadaver von meinem Zaun weg, Ewell. Du machst ihn dreckig, und ich kann mir keinen neuen Anstrich leisten. Und zweitens lass die Finger von meiner Köchin, oder ich bringe dich wegen tätlicher Beleidigun­g vor Gericht …“

„Ich hab sie nicht angefasst, Link Deas, ich denk nicht dran, mich mit Niggern abzugeben.“

„Du brauchst sie gar nicht anzufassen, für die Klage genügt’s, wenn du ihr Angst einjagst. Und wenn tätliche Beleidigun­g nicht reicht, dich für eine Weile ins Kittchen zu bringen, dann gibt’s ja auch noch das Frauenschu­tzgesetz. Also verschwind­e! Wenn du nicht glaubst, dass ich’s ernst meine, dann belästige das Mädchen ruhig noch mal.“

Offenbar glaubte Mr. Ewell, dass Mr. Link es ernst meinte, denn Helen wurde von da an nicht mehr behelligt.

„Die Sache gefällt mir nicht, Atticus, sie gefällt mir ganz und gar nicht“, war Tante Alexandras Kommentar zu diesen Ereignisse­n. „Der Mann scheint einen unauslösch­lichen Hass auf alle zu hegen, die mit dem Prozess zu tun hatten. Ich weiß, wozu derartige Leute in ihrer Rachsucht fähig sind. Allerdings verstehe ich nicht recht, warum er diese Hassgefühl­e hat. Der Prozess ist doch genau so verlaufen, wie er es wollte, nicht wahr?“

„Ja“, erwiderte Atticus, „aber ich glaube, ich verstehe ihn. Vermutlich ist ihm klar, dass nur sehr wenige Leute in Maycomb seine und Mayellas Lügenmärch­en geglaubt haben. Er hat gehofft, als Held gefeiert zu werden, und was hat er stattdesse­n bekommen? Man hat ihm gesagt, gut, wir werden diesen Neger verurteile­n, du aber scher dich in deinen Dreck zurück. Jetzt hat er sich bei jedem einmal ausgetobt und müsste eigentlich zufrieden sein. Er wird sich schon beruhigen, wenn das Wetter umschlägt.“

„Ich begreife nur nicht, warum er versucht hat, bei John Taylor einzubrech­en.“

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