„Die Wahrheit kommt ans Licht“
Der Schriftsteller Wladimir Kaminer über vermeintlich vegetarisches Fleisch und Putins Propaganda
Mit viel Humor erzählt Wladimir Kaminer in seinem aktuellen Buch von den Versuchen, seiner Mutter die komplexe neue Welt zu erklären. Die 90-jährige Dame sieht sich konfrontiert mit den Forderungen ihrer Enkel nach einem radikal anderen Lebensstil. Mit seinen generationsübergreifenden Familiengeschichten plädiert der deutsch-russische Autor für einen regen Austausch zwischen Jung und Alt.
Wladimir Kaminer, in Ihrem Buch „Wie sage ich es meiner Mutter“erklären Sie Ihrer 90-jährigen Mama die neue Welt, vom Gendersternchen bis Bio-Siegel. Würden Sie Ihre in der Sowjetunion aufgewachsene Mutter als eine emanzipierte Frau bezeichnen?
Das ist eine Emanzipation, die durch Not entstanden ist. Meine Mutter ist eine sehr fortschrittliche Person. Durch Corona hat sie sich ziemlich digitalisiert, sie hat jetzt viel mehr Apps als vor der Seuche. Ihre Nachrichten bekommt sie inzwischen hauptsächlich aus dem Netz. In meinem neuen Buch versuche ich vor allem mir selbst ein Bild von der Zukunft zu machen, indem ich das formuliere, was um uns herum geschieht. Ich spreche sehr gern über die Zukunft und eine Mutter hat trotz ihres hohen Alters durchaus den Anspruch, auch in diese Zukunft einzutreten.
Helfen Ihre Kinder Ihrer Mutter, mit der sehr komplexen, schwer nachvollziehbaren Welt von heute zurechtzukommen?
Es ist in erster Linie eine Schule der Toleranz. Man sollte die anderen so wahrnehmen, wie sie sind und nicht versuchen, sie von etwas anderem zu überzeugen. Es ist immer sehr lustig zu beobachten, wenn mein Sohn, der ein Jahr lang als veganer Koch gearbeitet hat, mit meiner Mutter einkaufen geht. Für sie ist Hühnchen kein Fleisch, das war schon immer so in Russland. Sie versteht nicht, was daran so verwerflich ist, Chickenwings zu essen. Mein Sohn kann sehr eindringlich ausmalen, dass das eigentlich Gebeine von gequälten, gefolterten Lebewesen sind. Ich hatte immer großen Spaß, bei diesen Gesprächen dabei zu sein und zu schauen, wie meine Mutter darauf reagiert.
Schaut Ihre Mutter noch gern die russische Sendung „Seelenkochen“?
In Russland sind wegen des Krieges alle Unterhaltungsprogramme abgeschafft worden. Es gibt nur noch Nachrichten und Schwarz-Weiß-Filme aus der Kriegszeit. Das hat auch damit zu tun, dass die absolute Mehrheit der Menschen, die die TV-Programme immer hergestellt haben, außer Landes ist. Die ganzen Stand-up-Comedians, Musiker, Fernsehjournalisten und Moderatoren. Der Ruhm und die Ehre des russischen Fernsehens haben das Land verlassen.
Also läuft in der Glotze eigentlich nur noch Propaganda?
Ja, ja, das ist eben das Problem. Aber ich versuche von Berlin aus nach Russland zu senden – mit Erfolg. Wir haben hier den verbotenen unabhängigen Radiosender „Echo“neu aufgebaut. Es geht voran. Er hieß früher „Echo Moskaus“. Wir erreichen von Berlin aus jetzt schon ein Millionenpublikum in Russland.
Viele Russen haben auch Verwandte in der Ukraine. Da finden sicher Gespräche am Telefon statt.
Ja, das stimmt. Es gab viele Fälle, in denen Menschen dem russischen Fernsehen mehr glaubten als ihren eigenen Verwandten am Telefon. Die Verwandten in der Ukraine sagten: „Wir sitzen hier im Bunker, und russische Bomben fallen auf unsere Häuser.“Die Russen antworteten: „Das kann nicht wahr sein, ich sehe im Fernsehen etwas ganz anderes!“Ich glaube, früher oder später wird die Wahrheit ans Licht kommen.
Glauben Sie, dass das russische Volk etwas gegen diesen Krieg ausrichten könnte?
Man braucht ja nicht das ganze Volk, um etwas auszurichten. Die große Oktoberrevolution ist auch nicht daraus entstanden, dass ein ganzes Volk auf die Straße ging. Es reichen eigentlich ein paar Hundert Menschen, die noch ein bisschen Anstand und Grips im Kopf haben, um diese Situation zu ändern.
Telefoniert Ihre Mutter noch regelmäßig mit ihren Verwandten in Moskau?
Ja, aber sie versuchen, das Thema Krieg zu vermeiden. Die Schwester meiner Mutter behauptet zwar, nicht fernzusehen, aber in den Gesprächen hört man Zitate aus dem Fernsehen. Zum Beispiel: „Wir mussten ja in die Ukraine gehen, sonst hättet ihr uns ja angegriffen!“Und wenn meine Mutter dann fragt: „Warum habt ihr nicht so lange gewartet, bis wir euch angreifen, dann würdet ihr heute ja nicht so blöd dastehen“, sagt meine Tante: „Lass uns lieber über etwas anderes reden!“
Seit dem Angriff auf die Ukraine fliehen russische Intellektuelle ins Ausland. Wie will Putin auf diese Weise ein neues Großrussland erschaffen?
Putin glaubt, es ist gut, wenn niemand mehr da ist, der klüger und gebildeter als der Führer selbst ist. Aber dafür muss er noch viele Leute rauswerfen.
Und die Daheimgebliebenen fallen alle auf Putins Propaganda rein?
Ich glaube das ehrlich gesagt nicht. Auch meine Tante glaubt nicht tatsächlich, dass Europa oder die Ukraine Russland angegriffen hätte. Das ist ja eine absurde Vorstellung. Sie sagen es einfach nur, weil sie eben nichts anderes sagen können. Sich diese Katastrophe selbst einzugestehen, ist sehr schwer, besonders für ältere Menschen. Damit wären ja die vergangenen 30 Jahre für die Katz gewesen. Die ganze russische Wirtschaftselite hat unheimlich viel dafür getan, um aus Russland ein entwickeltes europäisches Land zu machen. Dieses Lebensprojekt ist jetzt unter die Räder der Panzer gekommen.
Wofür lohnt es sich, auf der Welt zu sein?
Es macht Spaß! Die Voraussetzung ist, man liebt diese Welt. Die Menschen gehen einem natürlich auch furchtbar auf den Geist. Es gibt immer irgendetwas, was stört. Wenn man das aber als Gesamtkunstwerk mag und gerne hier ist, dann lohnt sich das Leben, ja.
sich Haare ausreißen, war auch hier das zerfledderte Fell dem Umstand geschuldet, dass Butzi sich vom quälenden Schmerz der entzündeten Zahnwurzeln abzulenken versuchte. Auch ihre auffällige Unsauberkeit war auf die Schmerzen zurückzuführen. Zahnerkrankungen kommen allgemein bei Katzen sehr häufig vor. Vor allem aber bei Tieren, die ausschließlich Indoor gehalten werden. Weil sie keine Beutetiere fangen und deshalb ihre Backenzähne zu wenig beanspruchen, sind sie anfällig für die Erkrankung FORL (Karies-ähnliche Zahnlöcher). Bei Butzi mussten insgesamt fünfzehn schon lockere Zähne entfernt werden. Nach einer vierzehntägigen Behandlung mit Antibiotika und Medikamenten gegen die Entzündungen, die in der Zwischenzeit auch schon die Kieferknochen um die Zahnfächer herum angegriffen hatten, war Butzi wieder sanft wie ein Lamm geworden.
Es reichen ein paar Hundert Menschen, die noch ein bisschen Anstand und Grips im Kopf haben.