Keine Panik auf der Titanic
Lorbeerkränze gibt es für die Europäische Union nur selten. Umso größer ist dann die Versuchung, sich darauf auszuruhen. Und da sich der Staatenbund in den vergangenen Jahren als überraschend widerstandsfähig, solidarisch und sogar kühn entpuppt hat, neigen derzeit viele – in Brüssel und auch jenseits – dazu, Probleme kleinzureden. Denn gewiss: In den vergangenen Jahren wurden Corona-Impfstoffe effizient gemeinsam eingekauft und verteilt, die aus der Pandemie folgenden Wirtschaftskrise wurde solidarisch abgefedert und die 27 Mitgliedstaaten sind in ihrer Antwort auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine bislang entschlossen und geeint geblieben. Doch diese Erfolge dürfen nicht darüber hinwegtäuschen: Von innen bleibt die Union in ihrem Wesen bedroht.
Denn in immer mehr Mitgliedstaaten machen sich rassistische, nationalistische und demokratiefeindliche Parteien auf Regierungsebene breit. In Ungarn ist der völkische Viktor Orbán nicht mehr wegzudenken und in Polen hat die rechtskonservative PiS-Regierung die Justiz und Medien unter ihrer Kontrolle gebracht, während die Rechte der Frauen beschnitten wurden. Im ansonsten so beneidenswerten Schweden werden demnächst wohl hart gesottene Rechtspopulisten mitregieren. Und das Gründungsland Italien wird am Sonntag ein neues Parlament wählen – aller Voraussicht nach wird ein rechtes Bündnis aus drei Parteien siegen, von denen zwei getrost als rechtsextrem bezeichnet werden können. Das Amt des Ministerpräsidenten dürfte dann an Giorgia Meloni gehen, die in ihrer Jugend in einer neofaschistischen Organisation aktiv war und den Diktator Benito Mussolini für einen großen Italiener hält.
Die Reaktion auf diese politischen Entwicklungen fällt in Brüssel und den meisten Regierungsvierteln der EU erstaunlich gelassen aus. Der Hauptgrund dafür ist, dass die meisten Rechtspopulisten mittlerweile ihre Rhetorik an die neuen Gegebenheiten angepasst haben. So will keine dieser Parteien mehr aus der EU austreten, denn auch sie haben mittlerweile gemerkt, dass die Union nunmehr von vielen Bürgern als Mehrwert empfunden wird. Obendrein hat das Brexit-Debakel jeglichen potenziellen Nachahmer entmutigt. Und ohnehin hat die EU bereits regierende Rechtspopulisten in Österreich, Italien oder Finnland überlebt. Und in der Regierungsverantwortung haben diese dazu geneigt, sich in internationalen Fragen zu mäßigen. Deswegen werden stramm rechte Politiker kaum mehr als systemische Bedrohung wahrgenommen.
Das weitere Erstarken rechter Parteien wird daher abgestumpft zur Kenntnis genommen. Doch ausgerechnet in dieser Normalisierung liegt der große Zwischensieg dieser Bewegungen. Denn während die Wachsamkeit vieler staatstragenden Parteien nachlässt – und manche sogar dem Machterhalt wegen Allianzen mit Rechtspopulisten schmieden –, machen sich politische Intoleranz, Gewaltbereitschaft und Fremden- und LGTBIQ-Feindlichkeit im politischen Diskurs breit. Den EU-Binnenmarkt wird das wohl kaum stören, doch das Gesellschaftsmodell, für das die EU steht, wird diesen Aufstieg auf Dauer nicht aushalten können.
Auf Dauer kann die EU den Aufstieg rechter Parteien nicht aushalten .
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