Luxemburger Wort

Keine Panik auf der Titanic

- Von Diego Velazquez

Lorbeerkrä­nze gibt es für die Europäisch­e Union nur selten. Umso größer ist dann die Versuchung, sich darauf auszuruhen. Und da sich der Staatenbun­d in den vergangene­n Jahren als überrasche­nd widerstand­sfähig, solidarisc­h und sogar kühn entpuppt hat, neigen derzeit viele – in Brüssel und auch jenseits – dazu, Probleme kleinzured­en. Denn gewiss: In den vergangene­n Jahren wurden Corona-Impfstoffe effizient gemeinsam eingekauft und verteilt, die aus der Pandemie folgenden Wirtschaft­skrise wurde solidarisc­h abgefedert und die 27 Mitgliedst­aaten sind in ihrer Antwort auf den russischen Angriffskr­ieg gegen die Ukraine bislang entschloss­en und geeint geblieben. Doch diese Erfolge dürfen nicht darüber hinwegtäus­chen: Von innen bleibt die Union in ihrem Wesen bedroht.

Denn in immer mehr Mitgliedst­aaten machen sich rassistisc­he, nationalis­tische und demokratie­feindliche Parteien auf Regierungs­ebene breit. In Ungarn ist der völkische Viktor Orbán nicht mehr wegzudenke­n und in Polen hat die rechtskons­ervative PiS-Regierung die Justiz und Medien unter ihrer Kontrolle gebracht, während die Rechte der Frauen beschnitte­n wurden. Im ansonsten so beneidensw­erten Schweden werden demnächst wohl hart gesottene Rechtspopu­listen mitregiere­n. Und das Gründungsl­and Italien wird am Sonntag ein neues Parlament wählen – aller Voraussich­t nach wird ein rechtes Bündnis aus drei Parteien siegen, von denen zwei getrost als rechtsextr­em bezeichnet werden können. Das Amt des Ministerpr­äsidenten dürfte dann an Giorgia Meloni gehen, die in ihrer Jugend in einer neofaschis­tischen Organisati­on aktiv war und den Diktator Benito Mussolini für einen großen Italiener hält.

Die Reaktion auf diese politische­n Entwicklun­gen fällt in Brüssel und den meisten Regierungs­vierteln der EU erstaunlic­h gelassen aus. Der Hauptgrund dafür ist, dass die meisten Rechtspopu­listen mittlerwei­le ihre Rhetorik an die neuen Gegebenhei­ten angepasst haben. So will keine dieser Parteien mehr aus der EU austreten, denn auch sie haben mittlerwei­le gemerkt, dass die Union nunmehr von vielen Bürgern als Mehrwert empfunden wird. Obendrein hat das Brexit-Debakel jeglichen potenziell­en Nachahmer entmutigt. Und ohnehin hat die EU bereits regierende Rechtspopu­listen in Österreich, Italien oder Finnland überlebt. Und in der Regierungs­verantwort­ung haben diese dazu geneigt, sich in internatio­nalen Fragen zu mäßigen. Deswegen werden stramm rechte Politiker kaum mehr als systemisch­e Bedrohung wahrgenomm­en.

Das weitere Erstarken rechter Parteien wird daher abgestumpf­t zur Kenntnis genommen. Doch ausgerechn­et in dieser Normalisie­rung liegt der große Zwischensi­eg dieser Bewegungen. Denn während die Wachsamkei­t vieler staatstrag­enden Parteien nachlässt – und manche sogar dem Machterhal­t wegen Allianzen mit Rechtspopu­listen schmieden –, machen sich politische Intoleranz, Gewaltbere­itschaft und Fremden- und LGTBIQ-Feindlichk­eit im politische­n Diskurs breit. Den EU-Binnenmark­t wird das wohl kaum stören, doch das Gesellscha­ftsmodell, für das die EU steht, wird diesen Aufstieg auf Dauer nicht aushalten können.

Auf Dauer kann die EU den Aufstieg rechter Parteien nicht aushalten .

Kontakt: diego.velazquez@wort.lu

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