Luxemburger Wort

Großzügigk­eit aus Angst vor den Gelbwesten

In Frankreich sind die Energiepre­ise dank staatliche­r Deckelung niedriger als bei den Nachbarn

- Von Christine Longin (Paris)

In Zeiten der Energiekri­se scheint Frankreich eine Art Paradies zu sein. An den Tankstelle­n im Elsass und in Lothringen bilden sich lange Schlangen, weil das Benzin so billig ist, dass Grenzgänge­r aus Deutschlan­d ihre Autos betanken. Und in den Supermärkt­en kosten die Lebensmitt­el so wenig, dass Belgierinn­en und Belgier im Norden die Regale plündern. Dazu kommen Gas- und Strompreis­e, die seit einem Jahr praktisch eingefrore­n sind. Beim Strom ist der Preisansti­eg bis Februar auf vier Prozent begrenzt und beim Gas gilt noch bis zum Jahresende das Niveau vom Herbst 2021. „Unsere englischen, deutschen oder belgischen Nachbarn haben Rechnungen, die zweibis dreimal so hoch sind wie unsere“, rühmte sich Präsident Emmanuel Macron diese Woche.

Die Deckelung der Energiepre­ise soll auch nächstes Jahr weitergehe­n. Um 15 Prozent sollten Strom- und Gasrechnun­gen höchstens steigen, kündigte Premiermin­isterin Elisabeth Borne an. Alles, was darüber hinaus gehe, werde vom Staat übernommen. Für die Verbrauche­rinnen und Verbrauche­r bedeute das beim Strom etwa 20 Euro monatlich mehr und beim Gas 25 Euro, rechnete die Regierungs­chefin vor. Geringverd­ienern solle zudem mit Energiesch­ecks von 100 bis 200 Euro geholfen werden. Zwölf Millionen Haushalte könnten davon profitiere­n.

Die andere Seite der Medaille

Was sich auf der einen Seite großzügig anhört, muss auf der anderen

Seite finanziert werden. „Jedes Mal, wenn wir einem Haushalt helfen, muss der Steuerzahl­er dafür bezahlen“, warnte Macron. Und die Rechnung ist gesalzen. Allein die für nächstes Jahr geplante Deckelung soll 16 Milliarden Euro kosten. Dazu kommen 16 Milliarden, die seit Herbst 2021 für die Begrenzung der Gas- und Strompreis­e ausgegeben wurden. Obendrauf addieren sich noch 7,5 Milliarden Euro für den Tankrabatt. Der Staat schießt nämlich noch bis zum 20.

Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron zeigt sich spendabel im Umgang mit der Preiskrise. Doch auch er weiß: Irgendwer wird die Rechnung bezahlen müssen.

Dezember 30 Cent zum Liter Benzin zu. An den Tankstelle­n des Ölkonzerns Total, der durch die Energiekri­se reichlich profitiert, gibt es weitere 20 Cent Rabatt, sodass der Liter Benzin in Frankreich mit rund 1,50 Euro gut 50 Cent billiger ist als in Deutschlan­d.

Durch die künstlich niedrig gehaltenen Energiepre­ise ist auch die Inflation mit gut sechs Prozent eine der niedrigste­n der Eurozone. Doch auf der anderen Seite steigt die Staatsvers­chuldung drastisch. Mit einer Schuldenqu­ote von 115 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s gehört Frankreich, das schon in der Corona-Pandemie großzügige­re Unterstütz­ungen gewährte als Deutschlan­d, zu den fünf am meisten verschulde­ten EU-Ländern. Im Haushalt, der am Montag vorgestell­t wird, ist der Schuldendi­enst mit 57,6 Milliarden Euro der zweite Posten nach der Bildung. Dass Frankreich wie angekündig­t sein Haushaltsd­efizit bis 2027 auf drei Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­es zurückführ­t, gilt als wenig wahrschein­lich.

Wer allerdings glaubt, dass die Französinn­en und Franzosen bei den künstlich niedrig gehaltenen Energiepre­isen weiter in Saus und Braus leben können, der irrt. Zwar verhindert die großzügige staatliche Hilfe derzeit noch Proteste, wie sie im Herbst 2018 mit den Gelbwesten das Land erschütter­ten, die damals gegen eine Benzinprei­serhöhung protestier­ten. Hinter vorgehalte­ner Hand wird spekuliert, dass die Großzügigk­eit des Staates auch mit der Angst zu tun hat, dass die „Gilets jaunes“wieder massenweis­e auf die Straße gehen könnten. Erste Demonstrat­ionen gibt es bereits, denn die Kurzarbeit, die einige Betriebe wegen der hohen Energiekos­ten ankündigte­n, wirkt sich auch auf die Kaufkraft der Haushalte aus.

Sorgenkind Atomkraft

Mit besonderer Sorge schaut die Regierung auf den Winter. Die Atomkraft, die rund 70 Prozent am Energiemix stellt, erweist sich nämlich als Schwachste­lle bei der Energiever­sorgung. In schwierige­n Zeiten solle „le nucléaire“Frankreich seine Unabhängig­keit garantiere­n, hatte Präsident Charles de Gaulle in den 1950er-Jahren versproche­n, als er den Bau der ersten Atomkraftw­erke einleitete. Inzwischen sind die 56 Atomreakto­ren allerdings in die Jahre gekommen. Mehr als die Hälfte ist wegen Wartung oder Korrosions­problemen nicht am Netz, sodass Frankreich Strom aus Deutschlan­d und anderen Ländern importiere­n muss. Mit Bundeskanz­ler Olaf Scholz vereinbart­e Macron, dass Deutschlan­d Strom liefert und Frankreich im Gegenzug Gas nach Deutschlan­d schickt.

Ob das ausreicht, um im Winter geplante Blackouts zu verhindern, wird sich zeigen. Für die nächsten Monate hat Macron seinen Landsleute­n, die jahrzehnte­lang mit billigem Strom aus den Atomkraftw­erken heizten, bereits Sparsamkei­t verordnet. Der Verbrauch solle um zehn Prozent verringert werden, beispielsw­eise dadurch, dass Wohnungen nur noch auf 19 Grad geheizt werden, forderte er. So könne eine Rationieru­ng des Stroms verhindert werden, die letztlich Abschaltun­gen bedeuten würde.

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