Luxemburger Wort

Gezielte Hilfen statt Gießkannen­prinzip

Wir benötigen einen Rettungspl­an für die Bedürftigs­ten

- Von Carole Reckinger*

Steigende Energiepre­ise haben über die letzten Monate die Lebenshalt­ungskosten drastisch erhöht und immer mehr Menschen befürchten, in die Armut abzurutsch­en. Die angekündig­ten Maßnahmen werden die Situation sicherlich allgemein beruhigen, allerdings werden sie die Schwierigk­eiten der Bedürftigs­ten im Land nicht erheblich verbessern.

Bereits vor der Pandemie, als die Energiepre­ise im EU-Vergleich bei uns sehr niedrig waren, waren fast 23 000 Personen (3,6 Prozent der Bevölkerun­g) in Luxemburg nicht in der Lage, ihre Wohnung angemessen zu beheizen. Seitdem sind die Preise für Gas und Heizöl explodiert und die Zahl der Menschen, die von Energiearm­ut betroffen sind, ist mit Sicherheit gestiegen, auch wenn wir noch keine offizielle­n Zahlen haben, die dies belegen.

Die Ursachen der Energiearm­ut liegen nicht allein bei den steigenden Energiepre­isen. Eine Rolle spielen auch sinkende Kaufkraft, hohe Mieten und schlecht isolierte Wohnungen. Der Energiever­brauch hängt von der Außentempe­ratur, der Isolierung der Wohnungen, der verwendete­n Heiztechno­logie und den Haushaltsg­eräten sowie dem Verhalten der Menschen ab. In den meisten Fällen ist Energiearm­ut das Ergebnis einer Kombinatio­n verschiede­ner Faktoren, mit schwerwieg­enden Auswirkung­en auf die Gesundheit, das Wohlbefind­en, die soziale Integratio­n und die Lebensqual­ität der betroffene­n Bürger.

Bis vor Kurzem waren die zwei größten Kostenfakt­oren für die ärmsten Haushalte hier im Land Wohnen (manchmal bis zu 50 Prozent des Einkommens) und Lebensmitt­el. Nun kommen noch die steigenden Energiekos­ten hinzu. Eine Studie der Confédérat­ion européenne des syndicats hat belegt, dass im Juli 2022 ein Luxemburge­r mit einem Durschnitt­slohn 14 Tage arbeiten musste, um seine jährlichen Energiekos­ten zu bezahlen. Beim Mindestloh­n lag die Zahl schon bei 25 Tagen. In diesem Kontext dürfen wir nicht vergessen, dass Luxemburg auch vor der Energiekri­se schon eine der höchsten Raten von Arbeitsarm­ut in Europa hatte.

Die jüngsten Prognosen vom Statec zeigen, dass das Armutsrisi­ko 2021 auf voraussich­tlich 19,2 Prozent gestiegen ist. Eine Quote, die seit 2005 im Durchschni­tt 1,6 Prozent im Jahr steigt (im Vergleich: +0,7 Prozent in der EU). Besonders vom Armutsrisi­ko betroffen sind Familien mit geringem Einkommen, Alleinerzi­ehende und kinderreic­he Familien. Das Armutsrisi­ko von ausländisc­hen Einwohnern ist doppelt so hoch wie das der Luxemburge­r. Im Pandemieja­hr 2020 hatte schon mehr als ein Viertel der Bürger (28,6 Prozent) Probleme, am Ende des Monats über die Runden zu kommen. Bei kinderreic­hen und alleinerzi­ehenden Familien war es fast jeder zweite Haushalt. Aus diesem Grund ist Energiever­sorgung und Energiearm­ut ein Thema der sozialen Gerechtigk­eit.

Schnell helfen, ohne bürokratis­che Hürden

Das angekündig­te Hilfspaket ist sozial nicht selektiv, sondern fällt wieder, wie schon so oft zuvor, unter die Kategorie des Gießkannen­prinzips! Eigentlich wäre jetzt der Moment gewesen, entschloss­en von breit angelegten Maßnahmen zu gezielten und sozial gestaffelt­en Hilfsmaßna­hmen überzugehe­n. Wenn wir eine soziale Krise vermeiden wollen, benötigen wir kurzfristi­g Hilfen, die schnell ohne administra­tive Hürden bei denen ankommen, die die Hilfe am meisten benötigen! Ohne Anträge stellen zu müssen.

Die Obergrenze­n für den Anspruch auf viele Sozialleis­tungen werden schnell erreicht, wenn man Vollzeit arbeitet und ein Gehalt hat, das etwas über dem Mindestloh­n liegt. Viele Alleinerzi­ehende und junge Erwachsene finden sich dann in der Situation wieder, dass sie ein paar Euro zu viel verdienen, um Anspruch auf Beihilfen wie zum Beispiel die Teuerungsz­ulage oder die Energieprä­mie zu erhalten.

Die Anspruchsb­erechtigun­g für die verschiede­nen Zulagen muss deshalb nach oben korrigiert und gestaffelt werden. Es darf nicht sein, dass wenn man über dem Satz liegt, kein Anrecht mehr hat. Der Betrag müsste degressiv abnehmen, um die 40 Prozent ärmsten Haushalte im Land zu erreichen. Der bürokratis­che Aufwand ist noch immer viel zu schwerfäll­ig und komplizier­t, und viele Menschen finden sich nicht mehr zurecht und wissen nicht, was sie alles (oft einzeln) beantragen können. Die Wenigsten wissen, dass sie Anrecht auf die Energieprä­mie haben, auch wenn sie kein Anrecht auf die Teuerungsz­ulage haben.

Energiearm­ut muss auch langfristi­g bekämpft werden, unter anderem durch Anreize zur energetisc­hen Sanierung. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass die Ärmsten in unserer Gesellscha­ft eher Mieter als Eigentümer sind. Es sind die gemieteten Wohnungen, die in Bezug auf den Energiever­brauch oft am schlechtes­ten abschneide­n. Anreize für Vermieter, ihre Mietwohnun­gen energetisc­h zu sanieren, sind zurzeit noch nicht wirksam.

Es bedarf einer Regelung, die verhindert, dass hoch energiever­schwendend­e Wohnungen vermietet werden. Parallel dazu muss es eine konsequent­e Subvention­ierung von energetisc­hen Renovierun­gsmaßnahme­n für Eigentümer geben, um diese nicht zu bestrafen. Eine solche Maßnahme würde die nationale Strategie zur energetisc­hen Sanierung ankurbeln. Gleichzeit­ig müssten die Mieterhöhu­ngen nach der Verbesseru­ng der Energieeff­izienz reguliert und kontrollie­rt werden, um eine Bereicheru­ng durch staatliche Subvention­en zu verhindern.

Wege in eine sozialgere­chte Transition

Die angekündig­ten Maßnahmen schaffen allgemein wenig Anreize, um Energie zu sparen. Wir befinden uns nicht nur in einer Energiekri­se, sondern auch, und vor allem, in einer Klimakrise. Belgien zum Beispiel hat einen Sozialtari­f für Gas und/oder Strom für die Ärmsten sowie ein Basispaket, um jene Haushalte zu unterstütz­en, deren Einkommen nicht gering genug ist, um von diesem Tarif profitiere­n zu können (bis in die Mittelschi­cht hinein).

Diejenigen, die mehr verbrauche­n als im Basispaket vorgesehen, zahlen den Mehrbetrag zum Normaltari­f. Dies soll als Anreiz dienen, um Energie einzuspare­n. Mit wenigen Ausnahmen sind es die reicheren Menschen, die den größten ökologisch­en Fußabdruck haben, sowohl in Europa als auch weltweit. Die ärmsten und sozial am stärksten benachteil­igten Menschen sind die, die am meisten unter dem Klimawande­l leiden und auch in Zukunft am meisten darunter leiden werden.

Wenn wir jetzt nicht handeln, wird es immer teurer werden, um die Klimakrise zu bewältigen. Wir benötigen deshalb dringend konsequent­e, sozial-selektive und strukturel­le Maßnahmen. Die Energietra­nsition muss so schnell und effizient wie möglich vorangetri­eben werden und die soziale Dimension muss fest im Klimaschut­z verankert werden. Andernfall­s können Maßnahmen zum Klima- und Umweltschu­tz schnell als Privilegie­n angesehen werden, als Anliegen, die weit von der Realität entfernt und nur für Menschen mit einem eher hohen Lebensstan­dard geeignet sind.

Entscheide­nd für die soziale Gerechtigk­eit

Für den Zusammenha­lt unserer Gesellscha­ft ist es wichtig, wieder mehr soziale Gerechtigk­eit herzustell­en und längerfris­tig die Ungleichhe­iten zu verringern. Ziel müsste es sein, eine Wirtschaft zu haben, die das Gemeinwohl berücksich­tigt und die Widerstand­sfähigkeit der Gesellscha­ft fördert. Mittel- und langfristi­g gesehen ist es unerlässli­ch, quantifizi­erte Ziele zu identifizi­eren, wie viel und bis wann das Armutsrisi­ko gesenkt werden soll. Nur mit klaren Zielen können konkrete Maßnahmen zur wirksamen Bekämpfung der Armut festgelegt werden.

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Foto: Getty Images Die Autorin verweist auf Zahlen, wonach bei kinderreic­hen und alleinerzi­ehenden Familien fast jeder zweite Haushalt Probleme habe, am Ende des Monats über die Runden zu kommen.

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