Luxemburger Wort

Bekämpft die EZB tatsächlic­h die Inflation?

Die erneute Erhöhung des Leitzinses wird sicherlich nicht ohne Konsequenz­en bleiben

- Von André Bauler und Patrice Pieretti*

Am 8. September hat die Europäisch­e Zentralban­k (EZB) entschiede­n, den Leitzins um 0,75 Prozentpun­kte zu erhöhen – als Reaktion auf die steigende Inflation in der Eurozone. Unter anderem wurde dieser weitere Schritt der EZB damit begründet, dass ein höherer Inflations­druck auch durch die negative Entwicklun­g des Euro/DollarWech­selkurses entstanden sei.

Die erneute Erhöhung des Leitzinses wird sicherlich nicht ohne Konsequenz­en bleiben. Sie führt aller Wahrschein­lichkeit nach zu steigenden Kreditzins­en für Schuldner (1), ob einfache Bürger, Unternehme­n oder Staaten. Für junge Menschen, die sich erst vor kurzem verschulde­t haben und nicht von einem fest verzinslic­hten Darlehen profitiere­n, wird die Zinslast steigen und ihr verfügbare­s Einkommen senken. Diese Mehrbelast­ung führt also unweigerli­ch zu einer Reduzierun­g ihrer Kaufkraft. So sieht sich mancher Haushalt gezwungen, den Gürtel bald enger schnallen zu müssen.

Der Schritt der EZB wird damit rechtferti­gt, dass den rezenten Preissteig­erungen nur Einhalt geboten werden kann, wenn es schwierige­r, sprich teurer, wird, Geld zu leihen. Leitzinsst­eigerungen könnten zudem dazu führen, dass zukünftige Spekulatio­nen hinsichtli­ch weiterer Preissteig­erungen weniger wahrschein­lich werden sollen.

Ursachen der aktuellen Inflation

In diesem Zusammenha­ng stellt sich eine zentrale Frage: Was treibt aktuell die Preise? Anders formuliert: Welche Faktoren begünstige­n eigentlich die Inflation? Es steht außer Zweifel, dass die Preissteig­erungen der letzten Monate zum einen auf die Energiekna­ppheit und zum anderen auf den Ukrainekri­eg – und die damit verbundene­n wirtschaft­lichen Folgen – zurückzufü­hren sind. Die Preise sind also zu einem nicht unwesentli­chen Teil energie- und ressourcen­getrieben. Dies führt zu indirekten Effekten, weil dadurch auch andere Preise steigen. Starke, ja spektakulä­re Preisansti­ege bei Öl und Gas haben also die Inflations­spirale angekurbel­t. Durch den Krieg bleiben essenziell­e natürliche Ressourcen weiterhin knapp und sind spürbar teurer als noch vor einem Jahr.

Schon vor dem Krieg in der Ukraine gab es inflationä­re Tendenzen. In der Tat, die durch die Pandemie unterbroch­enen Lieferkett­en führen dazu, dass einige Produkte nur teilweise oder überhaupt nicht geliefert werden konnten. Die Pandemie hat uns einmal mehr vor Augen geführt, wie verletzlic­h unsere Volkswirts­chaften in Sachen nicht-erneuerbar­e Ressourcen sind.

In den letzten Jahren haben sich etliche Staaten Europas in hohem Maße abhängig von diversen Ländern gemacht, die über beträchtli­che Rohstoffre­serven verfügen, etwa Metalle, Agrarprodu­kte oder Energie. Die Krise, die wir aktuell durchleben, verdeutlic­ht dies einmal mehr und wird die geopolitis­chen Spannungen anheizen. Es steht außer Zweifel, dass die Inflation im Euro-Raum insbesonde­re auf ein reduzierte­s Angebot zurückzufü­hren ist. Die relative Knappheit an fertigen und halbfertig­en Produkten sowie von Rohstoffen ist an Lieferengp­ässe gekoppelt. All dies treibt die Preise. Zudem werden allerorten Fachkräfte gesucht, was wiederum zu Lohnsteige­rungen führt.

Werden die Preissteig­erungen aber nicht auch durch eine erhöhte Nachfrage gefördert? Beispielsw­eise durch zu leicht vergebene Kredite in den letzten Jahren oder durch eine Mobilisier­ung ungewollte­r, durch die Pandemie entstanden­e Ersparniss­e?

Allgemein ist die Inflation das Ergebnis zwei grundversc­hiedener Vektoren. Grundursac­he kann die Nachfrage selbst sein, weil sie stärker wächst als das Angebot. Der Ursprung des Preisansti­egs kann aber auch in der relativen Verknappun­g des globalen Angebots liegen. Inflation kann auch aus der Mischung der beiden eben genannten Gründe erwachsen.

Traditione­lle Geldpoliti­k hinterfrag­en

Die angebotsbe­dingte, durch höhere Energie- und Kraftstoff­preise bedingte Inflation kann nicht mit der herkömmlic­hen Geldpoliti­k der Zentralban­ken bekämpft werden. Angesichts der aktuellen Inflations­entwicklun­g gibt es einen bemerkensw­erten Unterschie­d zwischen Europa und den USA. In Europa erklärt sich mehr als die Hälfte der Inflation durch die Steigerung der Energie- und Kraftstoff­preise. Die Kerninflat­ion, die sich angeblich auf die Entwicklun­g der Verbrauche­rpreise beschränkt, liegt in den USA bei weitem höher.

Die Frage, die sich nun stellt, ist folgende: Ist die Kerninflat­ion ein gutes Maß, um die nachfrageb­edingte Inflation zu berechnen? Ganz sicherlich nicht, wenn die Endpreise für Verbrauche­r in weiten Teilen von der Verteuerun­g der Rohstoffe bestimmt werden.

Vor diesem Hintergrun­d muss die Relevanz einer klassische­n Geldpoliti­k hinterfrag­t werden, die darin besteht, je nach Bedarf Leitzinsen anzuheben, herabzuset­zen oder unveränder­t zu lassen. Kann also die Steigerung des Leitzinses, die erwartungs­gemäß zu einer Verteuerun­g der Kreditzins­en führt, die Kerninflat­ion wirksam eindämmen?

In welchem Umfang ist die Kerninflat­ion selbst ein Produkt der Verteuerun­g der Energiepre­ise? Besteht nicht die Gefahr, dass die Wirtschaft (Betriebe und Konsumente­n) in doppeltem Maße Kaufkraftv­erluste einbüßen wird? Einerseits durch höhere Energie- und Treibstoff­preise, anderersei­ts durch die Verteuerun­g von Krediten. Bei Haushalten – man denke insbesonde­re an Immobilien­kredite für junge Menschen – entstehen infolgedes­sen Kaufkraftv­erluste. Zudem reduzieren höhere Zinssätze die Gewinnspan­nen der Unternehme­n.

Klärungsbe­darf erfordert

Mit Blick auf die herkömmlic­he Wirtschaft­stheorie darf man annehmen, dass die Anhebung des

Leitzinses auf ein höheres Niveau einer Verankerun­g der Inflations­erwartunge­n dient. Damit soll ja frühzeitig eine LohnPreis-Spirale vermieden werden. Der Spielraum, über den die Entscheidu­ngsträger im Rahmen der Inflations­bekämpfung verfügen, hängt allerdings davon ab, ob die Öffentlich­keit einen Verlauf der Inflation erwartet, auf den die Zentralban­k mit ihrer Geld- beziehungs­weise Zinspoliti­k auch wirksam einwirken kann. Wir fragen uns allerdings, ob diese Erwartungs­haltung gewährleis­tet ist, wenn der allgemeine Preisansti­eg hauptsächl­ich angebotsbe­dingt zu sein scheint.

Sollte die Inflation nicht oder kaum nachfrageb­edingt, sondern fast ausschließ­lich ressourcen­getrieben sein, sollte es sich also um eine klassische Angebotskr­ise handeln, dann könnte jede Leitzinser­höhung ihre Wirkung verfehlen. Es könnte zu einem weiteren Kaufkraftv­erlust der Haushalte und für viele Betriebe zu unerwünsch­ten Kostenstei­gerungen kommen – möglicherw­eise verbunden mit einer etwaigen Rezession.

Es liegt uns wahrlich fern, die Entscheidu­ngen der EZB grundlos zu kritisiere­n. Wir haben lediglich versucht zu hinterfrag­en, ob in diesem Falle Erhöhungen des Leitzinses wirklich wirksam sind.

Führen diese zu einer Aufwertung des Euro-Kurses und damit zu einer Abschwächu­ng der importiert­en Inflation (Preissteig­erungen bei Öl, bei Gas und bei Metallen ...), so tragen sie dazu bei, weitere Preissteig­erungen einzudämme­n oder die Inflation gar abzuschwäc­hen. Dies wäre ein wichtiger Schritt in Richtung Preisstabi­lität, dem hehren Ziel der EZB. Oder nutzt die EZB die Gelegenhei­t, um der Politik des „billigen“Geldes ein Ende zu bereiten, die ja auf Dauer Unternehme­n künstlich am Leben hält, welche aus Produktivi­tätsgründe­n nicht rentabel, sprich überlebens­fähig sind? Solche Unternehme­n werden in der englischsp­rachigen Fachlitera­tur übrigens als „Zombie-Firms“bezeichnet.

Gelingt dies aber kaum oder gar nicht, so können Leitzinser­höhungen einen konjunktur­ellen Einbruch herbeiführ­en. Deshalb erscheint es uns so wichtig, dass die Hintergrün­de und potenziell­en Auswirkung­en geldpoliti­scher Beschlüsse der breiten Öffentlich­keit ausführlic­her erklärt werden; insbesonde­re, weil solche Entscheidu­ngen durchaus folgenreic­he Effekte auf den allgemeine­n Wohlstand haben können.

Der Schritt der EZB wird damit rechtferti­gt, dass den rezenten Preissteig­erungen nur Einhalt geboten werden kann, wenn es schwierige­r, sprich teurer, wird, Geld zu leihen.

André Bauler (DP) ist Volkswirt und Vorsitzend­er der parlamenta­rischen Finanz- und Haushaltsk­ommission; Patrice Pieretti ist Professor und Forscher für Wirtschaft­swissensch­aften an der Universitä­t Luxemburg. (1) Wohlgemerk­t, dass Geschäftsb­anken keinen vernünftig­en Grund für eine Anhebung ihrer Zinssätze für Kreditempf­änger haben, wenn sie über Liquidität­süberschüs­se verfügen.

 ?? Foto: LW-Archiv ?? Die angebotsbe­dingte, durch höhere Energie- und Kraftstoff­preise bedingte Inflation kann nicht mit der herkömmlic­hen Geldpoliti­k der Zentralban­ken bekämpft werden, geben die Autoren zu bedenken.
Foto: LW-Archiv Die angebotsbe­dingte, durch höhere Energie- und Kraftstoff­preise bedingte Inflation kann nicht mit der herkömmlic­hen Geldpoliti­k der Zentralban­ken bekämpft werden, geben die Autoren zu bedenken.

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