„Demokratie, mein Freund, gibt es nicht“
In Russland gibt sich kaum einer die Mühe, den Westen zu verstehen – ein Erfahrungsbericht von LW-Korrespondent Stefan Scholl
Im Herbst 1991, nach zehn Monaten Leben in der zusammenfallenden Sowjetunion, habe ich auf einer Reiseschreibmaschine meinen ersten Seitenartikel für eine russische Zeitung getippt. Titel des Textes, der in der liberalen „Moskowskie Nowosti“erschien: „Eine Euphorie, die sonst nur Tierbabys hervorrufen“. Ein Text über ein Missverständnis: Damals behandelten mich die Russen wie eine vom Himmel gefallene Prinzessin. „Bis 1985 (also bis zum Beginn der Perestroika)“schrieb ich damals, „wurden ihnen die Menschen 'aus dem Westen' als skrupellose Betreiber oder als hilflose Opfer der kapitalistischen Tretmühle dargestellt. Jetzt erscheinen sie als unschuldige Engel, als Lieblingskinder eines perfekten Systems.“
Tatsächlich begegneten mir vor allem die Russinnen mit einer Euphorie, wie sie sonst nur Tierbabys hervorrufen. Noch waren Westler eine Seltenheit, meine Asics-Turnschuhe wurden ebenso bestaunt wie mein Akzent. Es war eine Zeit großer Sympathien, aber wenig Neugierde. Für die Russen war ich ein klarer Fall: Ein Glückskind,
Westen ist für sehr viele Russen nicht mehr als eine statusträchtige Urlaubs- und Einkaufslandschaft, ein Sammelsurium von Markenartikeln, die man haben, aber nicht verstehen muss.
ein Zugereister aus dem Schlaraffenland, der immer Geld hat und die Zeit, bis spät in die Nacht den schon damals unpopulären Gorbatschow zu verteidigen. Und der den SchwarzmarktWodka bezahlt, den man dabei leert. Angesichts der abstürzenden Sowjetwährung konnte ich als Westler täglich ein halbes Monatsgehalt von 150 Rubel auf den Kopf hauen, ohne mehr als 200 US-Dollar im Monat auszugeben.
Russische Bekannte betrachteten mich mit neidischem Mitleid: Mein Gott, so reich und so naiv. Schon damals glaubten die Russen, sie kennen den Westen. Moskauer Literaturstudentinnen überraschten mich mit ihrer profunden Kenntnis verschiedener Audi- oder BMW-Modelle. Die ersten Russen fuhren Volvo, arme Leute horteten zumindest Aldi-Tüten oder Cola-Dosen. Die Russen versuchten, ihren Westen in den Griff zu kriegen.
Der begehrte Westler
Immer wenn ich in den nächsten Jahren nach Russland zurückkehrte, war ihnen das ein bisschen mehr gelungen. Cappuccino-Maschinen tauchten auf und neue Nachtclubs, wo das Publikum schwarze Lederanzüge trug wie Arnold Schwarzenegger. Die Euphorie der jungen Frauen, die meinen Hartwährungsakzent hörten, paarte sich zusehends mit Berechnung. Eine Zeit lang schrie ich allen Mädchen, die mir im Getöse der Diskotheken schöne Augen machten, zu, ich käme aus Grönland: Das sollte die, die nur raus heiraten wollten, abschrecken.
In den Wohnungen mit frischer „Euro-Renovierung“standen jetzt teure japanische TVBildschirme. Statt Wodka floss immer mehr Whisky. Und überall tobte die Marktwirtschaft. Russische Unternehmer wurden nicht nur reich, sondern steinreich, schickten ihre Kinder auf Schweizer oder britische Privatschulen, kauften Londoner Fußballvereine. Aber den Westen haben die meisten trotzdem nie verstanden. Und sie haben es auch nicht ernsthaft versucht.
Anatoli, Geschäftsmann, fährt jährlich mehrmals nach Bayern, bringt immer einen neuen Bierkrug heim. Jedes Mal, wenn wir uns um Schwitzbad treffen, verspricht er mir, seine Sammlung von über tausend Bierseideln zu zeigen. Und er schwärmt über Deutsche, die es längst nicht mehr gibt: „Ein Kriegervolk, nur wir Russen konnten sie besiegen.“Nirgendwo haben die Nazis im Zweiten Weltkrieg so gewütet wie an der Ostfront, über 20 Millionen Sowjetmenschen kamen dabei um. Aber das stört die Russen nicht. Die Deutschen gehören auch deshalb zu ihren Lieblings-Westlern, weil sie sie geschlagen haben, vor knapp 80 Jahren. Die Gegenwart ist für sie vor allem Verlängerung ihrer heroischen Vergangenheit. Auch über den Ukraine-Feldzug reden sie wie über ein blutiges Fußballspiel: „Gegen die Deutschen haben wir vier Jahre gekämpft, mit den Ukrainern werden wir schneller fertig.“
Die Russen konkurrieren gern, dominieren noch lieber. Was schicke Markenkleidung, Weltcup-taugliche Langlaufski oder die Kenntnis teurer Weinsorten angeht, blickt inzwischen ein Großteil meiner Bekannten gönnerhaft auf mich herab. „Sieh her, wir sind die erfolgreicheren Westler!“Von überschweren Parkettjeeps oder dem höchsten Wolkenkratzer Europas ganz zu schweigen. Dass das alles der Westen gebaut hat, übersehen sie. Westen ist etwas, was man kaufen kann, von dem man nichts lernen braucht.
Das Weltbild vieler Russen
Wenn Russen mit mir diskutieren, geht es sehr oft nicht darum, die eigene Gedankenwelt durch den Austausch von Argumenten zu erweitern. Sondern darum, Recht zu behalten.
Wie Amerikaner, Kanadier oder andere Völker, die übergroße Territorien bewohnen, sind die Russen ziemlich egozentrisch. Ihnen reichen ein paar Stereotypen, ein paar Schubladen, um den Rest der Welt einzuordnen. Nur 25 Prozent von ihnen besitzen einen Reisepass, noch weniger aktive Fremdsprachenkenntnisse. Auch wenn sie Russland nie verlassen haben, glaubt ein Großteil trotzdem, dass er den Westen besser kennt als der selbst.
Sie machen sich seit Jahren ihre eigenen Sorgen um ihn, vor allem um das zu schwache, zu tolerante, Europa. Mich hat 2015 ein Passant in Rostow schon auf offener Straße angehalten, um mich zu warnen vor jener farbig-islamischen Migrantenflut, die den nördlichen, großblondblauäugigen Teil der EU zu überschwemmen drohe.
Inzwischen bin ich ziemlich sicher, dass der Westen für sehr viele Russen nicht mehr ist als eine statusträchtige Urlaubsund Einkaufslandschaft, ein Sammelsurium von Markenartikeln, die man haben, aber nicht verstehen muss. Die meisten politischen Debatten mit Russen enden mit Hohngelächter, sie amüsieren sich über meine Naivität: „Du glaubst doch nicht ernsthaft, eure Wahlen wären nicht getürkt? Demokratie, mein Freund, gibt es nicht.“
„Was für eine Doppelmoral“Nicht nur Wladimir Putin ist beleidigt, dass der Westen ihn trotz seiner Reichtümer, seiner Erfolge
und seines Charismas nicht bewundernd in seinen Kreis aufgenommen hat. Und das nur, weil Russlands Führer sich nicht an jene heuchlerischen Spielregeln hält, die im Westen Presseoder Versammlungsfreiheit heißen. „Was für eine Doppelmoral“, empört sich mein Freund Pawel, Journalist. „Warum darf Putin nicht 23 Jahre reagieren, wenn Merkel 16 Jahre an der Macht war?“Dass die deutsche Kanzlerin sich diese Macht acht Jahre in einer Großen Koalition mit der Hauptoppositionspartei teilen musste, ist zu sehr Kleinkram, um zu zählen.
Seit Februar befindet man sich im halboffiziellen Kriegszustand mit dem „kollektiven Westen“, Nordamerika und Europa bestehen nur noch aus „feindseligen Ländern“. Und wie Putin sagt, will die NATO Russland vernichten und ausrauben und hetzt deshalb ukrainische Nazis auf die Russen. Als Westler in Moskau ist man jetzt ein sehr verdächtiges Subjekt.
Trotzdem spüre ich keinen Hauch von Volkszorn. Das letzte Mal, dass ein Russe mit den Fäusten auf mich losging, war 2003, in einem westsibirischen Dorf, es ging um ein Mädchen, nicht um Politik. Doch ich bin wieder eine Seltenheit. Wenn Moskauer oder andere Russen jetzt meinen Hartwährungsakzent hören, leuchten ihre Augen wieder auf. Die meisten hören mir geduldig zu, wenn ich erkläre, warum ich für die Ukrainer bin. Die Russen haben den Westen nicht verstanden. Aber viele fangen wieder an, über ihn nachzudenken. Und über sich.
Der Autor ist Russland-Korrespondent des „Luxemburger Wort“.
auch an Privatkunden abzugeben. Allerdings gab es damals keine Interessenten. Mal sehen, ob die zweite Wasserstoff-Tankstelle während den ersten 3 Jahren mehr als 50 Tonnen Wasserstoff verkauft.
Weiter informieren kann Herr Minister Turmes sich über die erste Wasserstoff-Tankstelle in Luxemburg auf der Internetseite https://trimis.ec.europa.eu Georges Feltz,
Luxemburg
Dies ist eine Reaktion zum Artikel „Luxemburgs erste Wasserstoff-Tankstelle“vom 15. September 2022.