Falsch prognostiziert und trotzdem alles richtig
EZB-Direktorin Isabel Schnabel verteidigt in Luxemburg die Zinspolitik der Währungsbehörde
Die Diagramme und Verlaufskurven, die Isabel Schnabel während ihres Vortrags auf die Leinwand projiziert, belegen eindrucksvoll, wie konsequent die Europäische Zentralbank (EZB) seit Ende 2019 mit ihren Prognosen und Modellrechnungen danebenlag. Schnabel ist Mitglied der EZB-Direktion und auf Einladung eines Netzwerks von Finanzvertretern nach Luxemburg gekommen, um zu erklären, wie es zu all dem kommen konnte.
Vom Kurvenverlauf in die Irre geführt
Eigentlich sollte das Bruttoninlandsprodukt weiter steigen und die Inflation sich nach dem Rückgang 2019 wieder gemächlich im komfortablen Bereich von anderthalb bis zwei Prozent einpendeln. Doch dann kam erst die Pandemie mit all ihren wirtschaftlichen Begleiterscheinungen und schließlich in diesem Frühjahr in der ohnehin wirtschaftlich angespannten Lage noch Russlands Einmarsch in die Ukraine. Alles in allem also kein gutes Umfeld für verlässliche Prognosen.
Insbesondere der Verlauf der Inflation scheint die Analysten in die Irre geführt zu haben, wie die EZB-Direktorin bei ihrem Vortrag in den Räumen der Spuerkeess anhand einer weiteren Grafik zeigt.
Zu sehen ist der Verlauf der Inflation, der sich im Zeitraum 1999 bis 2007 zunächst im Bereich der Zwei-Prozent-Marke bewegt, dann im Umfeld der Wirtschaftskrise 2008 erst auf vier Prozent steigt, dann ins Negative abrutscht, um schließlich die nächsten zehn Jahre mit großen Schwankungen mal oberhalb und mal unterhalb des aus Sicht der EZB zu niedrigen Durchschnittswerts von 1,3 Prozent zu liegen.
Kein Modell hätte das vorhersagen können
„Nach der Wirtschaftskrise hatten wir diesen langen Zeitraum, in dem die Inflation zu niedrig war“, sagt Schnabel. Und das Problem sei gewesen, dass viele EZB-Banker, aber auch andere Finanzökonomen diesbezüglich besorgt gewesen seien. „Die Hauptfrage war: Was machen wir, um von dieser niedrigen Inflation wegzukommen?“, erklärt die EZB-Direktorin. Selbst zu Beginn der Pandemie sei die Inflation so niedrig gewesen, dass niemand sich die darauffolgende Entwicklung habe vorstellen können. „Kein Modell hätte das vorhersagen können“, ist Schnabel überzeugt.
Im August lag die Inflation in der EU bei 9,1 Prozent. Und nicht nur die EU ist davon betroffen. Weltweit sind Zentralbanken seit Monaten damit beschäftigt, mit einer Anpassung des Leitzinses auf die Entwicklung zu reagieren. Am selben Tag, an dem Schnabel in Luxemburg dem auserwählten Kreis die Handlungspolitik der EZB erklärt, wird in Großbritannien der Leitzins um 0,5 Prozentpunkte und in der Schweiz um 0,75 Prozentpunkte angehoben. In der Türkei wird er trotz Kopfschütteln von Finanzexperten um einen Prozentpunkt gesenkt, wohingegen die USamerikanische Notenbank bereits am Mittwoch ihren Leitzins um weitere 0,75 Prozentpunkte angehoben hat.
USA nicht so stark betroffen wie Europa
Die USA haben damit bereits zum dritten Mal mit Zinssprüngen in dieser Größenordnung reagiert, die EZB hingegen hat erst zweimal den Leitzins erhöht: im Juli um 0,5 Prozentpunkte und im September dann schließlich um 0,75. Für das nächste Treffen der Währungshüter am 27. Oktober rechnen Experten mit einer weiteren Anhebung. Das wäre dann ebenfalls die dritte.
Nichtsdestotrotz hat die Europäische Zentralbank zum einen deutlich später und zum anderen bislang auch zögerlicher agiert – was von Finanzexperten in den vergangenen Monaten auch immer wieder kritisiert wurde. Die EZB hingegen hat ihr Zögern immer mit der Angst vor einem Abrutschen in die Rezession, also einem Rückgang der Wirtschaftsleistung, begründet.
Dass die USA die Zinsen früher und auch bislang auch stärker angehoben habe, liege vor allem daran, dass die Vereinigten Staaten von der Energiekrise bei Weitem nicht so betroffen seien wie die Europäer, da die Amerikaner selbst auch Energieexporteur seien. „Während Europa insgesamt mit einem dramatischen Handelsschock konfrontiert ist, profitiert die USA letztendlich von der Energiekrise“, sagt Schnabel. Zudem sei Europa auch aufgrund der geografischen Nähe zum Krisengebiet stärker betroffen.
Der Arbeitsmarkt ist noch robust
„Viele Leute sagen, die EZB habe überhaupt nicht reagiert“, sagt die Direktorin. Doch das sei falsch. So habe die Währungsbehörde unter anderem ihre Programme zum Ankauf
von Anleihen gestoppt. Diese Anleihekäufe wurden mit der Absicht getätigt, die Zinsen zu senken und die Inflation anzuheben. Und aufgrund der zuletzt zu niedrigen Inflation waren sie in der Pandemie auch noch ausgeweitet worden.
Die Zentralbank hat also zunächst einmal die Programme gestoppt, mit denen die Situation noch weiter hätte verschärft werden können. Danach ging es dann schließlich an den Leitzins. „Zu sagen, es sei nichts passiert, ist sicherlich nicht korrekt“, so die Direktorin.
Unabhängig von der Frage, ob die EZB tatsächlich alles richtig gemacht hat, ist zumindest der Arbeitsmarkt von der Entwicklung bislang weitestgehend verschont geblieben. Aber: „Wenn wir in eine Rezession kommen, was natürlich immer wahrscheinlicher wird, stellt sich die Frage, ob damit die Arbeitslosigkeit auch steigen wird“, gibt die Finanzexpertin zu bedenken, zeigt sich gleichzeitig aber auch ein wenig optimistisch: „Es spricht aber einiges für die Annahme, dass angesichts der Knappheit an Arbeitskräften einige Unternehmen ein Interesse daran haben könnten, ihre Mitarbeiter zu halten“, sagt Schnabel. „Denn wenn sie das nicht tun, dann haben sie es schwer, sie später zurückzubekommen.“
Zu sagen, es sei nichts passiert, ist sicherlich nicht korrekt. Isabel Schnabel