Liebesreigen vor bedrohlicher Kulisse
Schillerndes Sittenbild einer Welt im Umbruch
Der deutsche Kunsthistoriker und Autor Florian Illies hat mit seinem Welterfolg „1913. Der Sommer des Jahrhunderts“ein neues Genre der erzählenden Geschichtsschreibung begründet, wobei er verblüffende Querverbindungen zieht und elegante Szenen und Momentaufnahmen zu packenden Panoramen der Zeitgeschichte verknüpft.
Ganz ähnlich konzipiert und sicherlich ebenso überzeugend ist sein aktuelles Buch „Liebe in Zeiten des Hasses. Chronik eines Gefühls 1929-1939“mit (mutatis mutandis thematischen Anklängen an „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“(1985) von Gabriel García Márquez).
Der anhand von repräsentativen Künstler- und Literatenbiografien vermittelte Erzählbogen spannt sich vom Ende der so genannten „roaring twenties“im Gefolge der Weltwirtschaftskrise über die Zeit der Machtergreifung Hitlers bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs – ein in vielerlei Hinsicht hochspannendes Jahrzehnt, reich an tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen. Dabei lässt der Autor die dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts auf eine bestechende Art Revue passieren – aus der ganz persönlichen Perspektive weltbekannter Liebespaare der Epoche, die man als Leser zum Teil höchst privat, nachgerade hautnah kennenlernt. Mit elegant-geschmeidiger Feder, in der Tonalität zwischen witzig-virtuos, trocken-humorig, ironisch-lakonisch, aber auch poetisch-intim entwirft der Autor ein lebendiges Mosaik größerer und kleinerer Liebschaften aus der Literatur-, Kunst- und Geisteswelt, aber auch etwa der
Politik und Wissenschaft. Ilies‘ akkurat recherchiertes und sprachlich absolut brillantes Werk erweckt spannende Geschichten vor der Folie großer Geschichte zum prallen Leben, wobei die Unmittelbarkeit durch die stilistische Verwendung des historischen Präsens, aber auch mittels der stellenweise direkten Leser-Ansprache suggeriert wird.
Dabei hat auch die Zeit, die Florian Illies beschreibt, durchaus so einiges mit der heutigen Gegenwart gemeinsam...
Psychologisch einfühlsam und hochspannend erzählt
Wie in seinem erwähnten Bestseller „1913“vermittelt Illies Weltgeschichte am Beispiel von Liebesspielen,
sexuellen Freiheiten, Vorlieben und erotischen Ausschweifungen seiner Protagonisten, die er in Form eines überaus kreativen Patchwork-Szenarios, teils übergangslos, teils thematisch fließend in kleinen Sequenzen wie durch ein voyeuristisches Kamera-Auge betrachtet. Der ungemein weltkluge Autor erweist sich dabei als psychologisch überaus einfühlsamer Menschenkenner, lässt sich vorbehaltlos ein auf die inneren Widersprüche, Ambivalenzen, Komplexitäten und emotionalen Unwägbarkeiten seiner Hauptdarsteller. Dabei sind ihm weder seelische Abgründe noch menschliche Schwächen tabu. Illies erzählt (im Übrigen völlig wertfrei) von ebenso ego- wie erotomanen, notorisch untreuen Literaten und ihren mitunter nymphomanisch veranlagten Musen, exzentrischen, aber völlig lebensuntüchtigen Künstlern und ihren ergebenen Geliebten, schrulligen Intellektuellen, emanzipierten Schauspielerinnen und verstörten Gatten, ScheinEhen, hoffnungslosem Gefühlsund Beziehungschaos, Lüge und Betrug, komplizierten Ménages à trois, Polyamorie, sexueller Hörigkeit, Inzest und überhaupt sämtlichen Spielarten des unendlichen Reigens der Liebe. Die teilweise tragischen Figuren der Bohème der ausgehenden, freizügig-liberalen „wilden Zwanziger“leben auf ihrer frenetischen Suche nach Liebesglück verzweifelt-hemmungslos auf dem politisch schwankenden Boden der Weimarer Republik, der zunehmenden gesellschaftlichen Radikalisierung und der düsteren Drohkulisse des Zweiten Weltkriegs, so als gäbe es kein Morgen mehr.
Ein ungewohnter Blick, aus dessen Blickwinkeln heraus Illies Weltgeschichte lebensvoll-plastisch dokumentiert und dabei der brennenden Frage nachgeht: Was wird eigentlich aus der Liebe in Zeiten des Hasses?
Florian Illies lässt die dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts auf eine bestechende Art Revue passieren.
Florian Illies: „Liebe in Zeiten des Hasses. Chronik eines Gefühls 1929-1939“, Fischer Verlag, 432 Seiten,
24,70 Euro.