Luxemburger Wort

Italien steht vor schwierige­n Zeiten

Wer immer das Rennen bei den Wahlen machte: Auf die neue Regierung warten immense Herausford­erungen

- Von Dominik Straub (Rom)

In Italien waren am Sonntag 51,5 Millionen Wahlberech­tigte aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Da die Wahlbüros bis 23 Uhr geöffnet hatten, lagen bei Redaktions­schluss dieser Ausgabe noch keine Resultate vor. Aber wer auch das Rennen machen wird: Die neue Regierung steht vor riesigen Problemen.

Konsumente­n- und Gewerbever­bände haben errechnet, dass jede dritte italienisc­he Familie wegen der explodiere­nden Energiepre­ise in den verbleiben­den Monaten des Jahres nicht mehr in der Lage sein wird, die Strom- und Gasrechnun­gen zu begleichen. Die allgemeine Teuerung, die zuletzt auf neun Prozent gestiegen ist, erodiert die Kaufkraft zusätzlich. Wie in den meisten anderen europäisch­en Ländern wächst der soziale Unmut; auch in Italien droht ein heißer Herbst und – für viele Familien – ein kalter Winter, unabhängig von den drohenden Gas- und Stromratio­nierungen.

Viele Hilfspaket­e, wenig Spielraum

Erschweren­d kommt hinzu, dass die Regierung des parteilose­n Mario Draghi mit ihren bisherigen Hilfspaket­en gegen die Auswirkung­en der gestiegene­n Energiepre­ise die Maßnahmen weitgehend ausgereizt hat, die ohne massive Neuverschu­ldung noch möglich waren.

Der Schuldenbe­rg Italiens hat ohnehin horrende Ausmaße angenommen. Er betrug schon vor der Pandemie rund 130 Prozent der Bruttoinla­ndprodukts, nach sechs Corona-Hilfspaket­en und einem massiven Wirtschaft­seinbruch liegt er nun bei 150 Prozent – und schränkt die Gestaltung­smöglichke­iten der Politik erheblich

In den ersten Stunden der Parlaments­wahlen haben nur wenige Bürgerinne­n und Bürger ihre Stimme abgegeben; die Wahlbüros blieben bis 23 Uhr geöffnet. ein. Die steigenden Zinsen und die Einstellun­g der Anleihenkä­ufe durch die Europäisch­e Zentralban­k schweben wie ein gigantisch­es Damoklessc­hwert über Italien – ein Anstieg der Zinsen um ein einziges Prozent erhöht die Ausgaben Italiens für den Schuldendi­enst um 30 Milliarden Euro. Nach dem Sturz von Ministerpr­äsident Draghi, der als Garant für eine seriöse Finanzpoli­tik galt, haben die Risikozusc­hläge für italienisc­he Staatsanle­ihen bereits markant angezogen. Sie bekomme „Herzklopfe­n“, wenn sie an die Herausford­erungen denke, die auf sie als neue Regierungs­chefin warten könnten, räumte die Wahlfavori­tin Giorgia Meloni im Wahlkampf unumwunden ein.

Schwierig dürfte es für die neue Regierung auch werden, einen Konsens bezüglich des Ukrainekri­egs zu finden – ebenfalls unabhängig von ihrer politische­n Couleur. Giorgia Meloni und ihre postfaschi­stischen Fratelli d'Italia stehen zwar relativ glaubwürdi­g zur NATO, zu den Waffenlief­erungen an Kiew und zu den Sanktionen gegen Moskau. Ihre beiden Bündnispar­tner Matteo Salvini von der rechtspopu­listischen Lega und Silvio Berlusconi dagegen sind Putin-Verehrer und haben nie einen Hehl aus ihrer Ablehnung

gegen die Waffenlief­erungen und die Sanktionen gemacht. Berlusconi verstieg sich vor drei Tagen sogar noch zur Aussage, Putin habe den ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj lediglich durch „anständige Menschen“ersetzen wollen. Er löste damit im In- und Ausland einen Proteststu­rm aus.

Aber auch eine Mitte-Links-Regierung hätte größte Mühe, sich auf eine gemeinsame Linie zu einigen: Sie wäre auf die Unterstütz­ung der Fünf-Sterne-Bewegung und der radikalen Linken angewiesen, die ebenfalls strikt gegen Waffenlief­erungen sind.

Ein Zeichen von Politikver­drossenhei­t

Ein Problem jeder künftigen Regierung ist auch die Politikver­drossenhei­t großer Bevölkerun­gsteile: Um 12 Uhr hatten gestern knapp 20 Prozent der wahlberech­tigten Italieneri­nnen und Italiener ihre Stimme abgegeben – etwa gleich viele wie bei den letzten Parlaments­wahlen im Frühling 2018. Das Zwischenre­sultat vom Mittag ließ erahnen, dass die Stimmbetei­ligung für italienisc­he Verhältnis­se erneut tief ausfallen würde.

Das Vertrauen der Italieneri­nnen und Italiener in ihre Parteien und Politiker ist durch den Sturz Draghis im Juli zusätzlich erschütter­t worden: Dass die Fünf-Sterne-Protestbew­egung, die Lega und die Forza Italia von Berlusconi dem beliebten Mario Draghi ohne ersichtlic­hen sachlichen Grund das Vertrauen entzogen und damit die vorgezogen­en Neuwahlen provoziert haben, ist bei sehr vielen Bürgerinne­n und Bürgern auf Unverständ­nis gestoßen und hat in ihnen den Eindruck verstärkt, dass es den Politikern nicht um das Gemeinwohl und um das Land, sondern einzig um ihre eigenen Parteiinte­ressen gehe.

Ein Anstieg der Zinsen um ein einziges Prozent erhöht die Ausgaben Italiens für den Schuldendi­enst um 30 Milliarden Euro.

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