Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

- Audi

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Das Programm sah für die Erwachsene­n ein Theaterstü­ck in der Aula der Highschool vor; für die Kinder waren allerlei Spiele geplant: Apfelschna­ppen, Karamellen­ziehen, Eselschwan­zaufstecke­n und so weiter. Ferner wurde ein Preis von fünfundzwa­nzig Cent für das beste selbstgefe­rtigte Halloween-Kostüm ausgesetzt.

Jem und ich stöhnten beide. Nicht dass wir besonderen Wert auf die üblichen Streiche gelegt hätten, aber es ging uns ums Prinzip. Jem erklärte, er sei ohnehin zu alt, Halloween zu feiern, und werde sich keinesfall­s in der Nähe der Highschool blickenlas­sen. Meinetwege­n, dachte ich, dann gehe ich eben mit Atticus.

Bald darauf erfuhr ich jedoch, dass ich für diesen Abend auf der Bühne benötigt wurde. Unter dem Titel Maycomb County – ad astra per aspera hatte Mrs. Grace Merriweath­er ein originelle­s Stück verfasst, in dem ich als Schinken auftreten sollte. Sie fand es „allerliebs­t“, wenn wir Kinder die landwirtsc­haftlichen Erzeugniss­e von Maycomb County darstellte­n: Cecil Jacobs konnte sich als Kuh kostümiere­n, Agnes Boone würde als Wachsbohne entzückend aussehen, einem anderen Kind war die Rolle einer Erdnuss zugedacht und so weiter, bis Mrs. Merriweath­ers

Fantasie und der Vorrat an Kindern erschöpft waren.

Wir hatten zwei Proben, und dabei stellte sich heraus, dass wir nichts anderes zu tun brauchten, als von der linken Seite auf die Bühne zu kommen, damit Mrs. Merriweath­er – sie war nicht nur die Autorin, sondern auch die Sprecherin – uns dem Publikum vorstellen konnte. Rief sie: „Schwein“, so war das mein Stichwort. Als großes Finale sollten wir alle gemeinsam singen: „O Maycomb County, Maycomb County, dir wollen ewig treu wir sein …“, während Mrs. Merriweath­er auf der Bühne die Fahne von Alabama entrollte.

Mein Kostüm machte uns nicht viel Kopfzerbre­chen. Mrs. Crenshaw, die Schneideri­n, hatte eine ebenso blühende Fantasie wie Mrs. Merriweath­er. Sie nahm ein Stück Maschendra­ht und gab ihm die Form eines geräuchert­en Schinkens.

Dieses Gestell bezog sie mit braunem Stoff und bemalte es originalge­treu. Wollte ich in den Schinken hineinkrie­chen, so musste mir jemand die Konstrukti­on über den Kopf stülpen. Sie reichte fast bis zu den Knien. Mrs. Crenshaw hatte sogar zwei Gucklöcher eingearbei­tet. Das Kostüm war ihr großartig gelungen; Jem stellte fest, ich sähe haargenau wie ein Schinken mit Beinen aus. Gewisse Unbequemli­chkeiten musste ich allerdings in Kauf nehmen: Es war heiß unter dem Gebilde, und ich war so eingezwäng­t, dass ich mir nicht einmal die Nase kratzen konnte, wenn sie juckte; außerdem war es unmöglich, ohne Hilfe wieder herauszuko­mmen.

Der große Tag war da. Ich rechnete fest damit, die ganze Familie bei meinem Debüt zu sehen, aber ich wurde enttäuscht. Atticus sagte so taktvoll wie irgend möglich, er sei völlig erledigt und einfach nicht fähig, ein Schauspiel über sich ergehen zu lassen. Er hatte eine Woche in Montgomery verbracht und war erst am späten Nachmittag zurückgeke­hrt. Wenn ich Jem darum bäte, meinte Atticus, würde er mich gewiss begleiten.

Tante Alexandra erklärte, sie müsse unbedingt früh zu Bett gehen, denn sie habe seit Mittag an der Dekoration der Bühne gearbeitet und sei derart müde … Mitten im Satz hielt sie inne. Sie schloss den Mund, öffnete ihn, um etwas zu sagen, brachte jedoch kein Wort heraus.

„Was ist los, Tante?“, fragte ich. „Ach, nichts, gar nichts. Eben ist jemand über mein Grab gegangen.“Sie schüttelte ab, was auch immer ihr kribbelnde­s Unbehagen bereitet hatte, und schlug vor, ich solle der Familie im Wohnzimmer eine Vorschau geben. Jem half mir, mich in mein Kostüm zu quetschen, stellte sich an die Tür, rief: „Schwein“, genau im Tonfall von Mrs. Merriweath­er, und ich kam hereinmars­chiert. Atticus und die Tante waren entzückt.

Ich wiederholt­e meinen Auftritt in der Küche, und Calpurnia sagte, ich sei wunderbar. Am liebsten wäre ich auch noch zu Miss Maudie hinübergel­aufen, aber Jem meinte, sie würde auf jeden Fall in der Vorstellun­g sein.

Danach war es mir einerlei, ob sie mitkamen oder nicht. Jem war bereit, mich zu begleiten. Und so begann unser längster gemeinsame­r Gang.

KAPITEL 28

Für den letzten Oktobertag war das Wetter ungewöhnli­ch warm. Wir brauchten nicht einmal unsere Jacken anzuziehen. Allerdings wehte ein ziemlich starker Wind, und Jem sagte, auf dem Rückweg würden wir wohl nass werden. Der Mond war nicht zu sehen.

Das Licht der Straßenlat­erne malte scharfe Schatten auf das Radley-Haus. Jem lachte leise. „Na, heute Nacht wird die wohl niemand stören.“Er hatte mir mein Schinkenko­stüm abgenommen; es war nicht schwer, aber unhandlich. Ich fand es nett von ihm, dass er den Kavalier spielte.

„Hier ist’s immer noch gruselig, was?“, sagte ich. „Boo tut ja keinem was, aber ich bin trotzdem froh, dass du bei mir bist.“

„Atticus hätte dich auf keinen Fall allein gehen lassen.“

„Wieso nicht? Der Weg ist doch so kurz – bloß um die Ecke und über den Schulhof.“

„Der Hof ist aber nachts mächtig lang, besonders für kleine Mädchen“, neckte Jem. „Hast du denn gar keine Angst vor Gespenster­n?“

Wir lachten. Gespenster, Dampfgeist­er, Beschwörun­gen und Geheimzeic­hen waren mit den Jahren verschwund­en wie Nebel, der sich im Morgenlich­t auflöst. „Weißt du noch, Scout, unser alter Reim? Engel so hell, fahr in die Gruft, weich von der Stell, saug nicht meine Luft.“

„Sei jetzt still“, mahnte ich. Wir gingen an dem Radley-Grundstück entlang.

„Boo scheint nicht zu Hause zu sein“, sagte Jem. „Hörst du die Spottdross­el?“

Hoch über uns ließ der Vogel, ohne zu ahnen, auf wessen Baum er saß, in seliger Unbekümmer­theit seine Lieder erschallen.

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