Das Problem mit der Notwehr
Wegen Totschlags angeklagt: Heute beginnt der Prozess um tödliche Polizeischüsse 2018
Luxemburg. Es sind Sekundenbruchteile, die für einen Menschen tödlich enden und für einen anderen auf der Anklagebank. Ein blutjunger Polizist eröffnet nach einer misslungenen Fahrzeugkontrolle am späten Nachmittag des 11. April 2018 in Bonneweg das Feuer auf einen Autofahrer. Eine Kugel trifft den Fahrer in die Schulter. Eine Zweite bohrt sich in dessen Brust und tötet den 51-jährigen alleinigen Fahrzeuginsassen. Ein drittes Projektil schlägt im Wagen ein.
Vieles deutet gleich nach dem Vorfall auf Notwehr hin. Doch ganz so einfach ist die Sache dann doch nicht. Denn von heute Vormittag an ist eine Kriminalkammer mit der Wahrheitsfindung befasst.
Die Ausgangslage ist folgende: Der Fahrer eines schweren Mercedes fällt an jenem Mittwochnachmittag wegen seiner abgedrehten Fahrweise im belebtesten Teil des Hauptstadtviertels Bonneweg auf. Er lässt den Motor immer wieder aufheulen, rast mit erheblicher Geschwindigkeit durch die engen Häuserschluchten, fährt Zeugen zufolge in Schlangenlinien und verliert offenkundig unter Alkoholeinfluss mehrfach die Kontrolle über den Wagen.
Viele Zeugen haben den Wagen indes vor den Schüssen nur gehört. Das frühlingshafte Wetter – wärmender Sonnenschein bei angenehmen 18 Grad – hat sie auf die umliegenden Gaststättenterrassen gezogen. Die gleich nach dem Vorfall vor Ort vom „Luxemburger Wort“aufgenommenen Zeugenaussagen widersprechen sich teils. Es gibt aber wiederkehrende Übereinstimmungen.
In der Höhe des Schwimmbads, im Dernier Sol versuchen Polizisten
demzufolge vergeblich, den Autofahrer zu stoppen. Er flüchtet, verliert am Kreisverkehr an der Obdachlosenunterkunft erneut die Kontrolle über seinen Wagen und stoppt erst am Ende der Rue des Ardennes, an der Kreuzung mit der Rue Sigismond. Denn hier hat sich ihm der Polizist M. in den Weg gestellt und gibt eindeutige Haltezeichen.
Mehrstündige Tatrekonstruktion wird im Prozess gezeigt
Die Sekunden, die nun folgen, sind inzwischen Gegenstand einer zweieinhalbstündigen Tatrekonstruktion, die auch integral im Prozess gezeigt werden soll. Nach dem bisherigen Kenntnisstand soll der Fahrer seinen Mercedes zunächst kurz zurückgesetzt und dann mit quietschenden Reifen auf den Polizisten zu beschleunigt haben. M. gibt daraufhin – eigenen Aussagen zufolge – in Notwehr die drei Schüsse auf den Fahrer ab. Der Wagen rollt weiter in Richtung Schule und kommt an der Place Léon XIII an einem Baum zum Stehen. Für den Mercedesfahrer, einen 51-jährigen Niederländer, der im deutsch-luxemburgischen Grenzgebiet lebte, kommt jegliche Hilfe zu spät. Später wird bekannt: Er war nicht im Besitz einer gültigen Fahrererlaubnis und wegen Verkehrsvergehen polizeibekannt. Mehr ist nicht in Erfahrung zu bringen.
Die Polizeiinspektion IGP, also die polizeiexterne Dienststelle für interne Ermittlungen in der Polizei, wird mit den Untersuchungen befasst. Ein Untersuchungsrichter ordnet insgesamt vier Gutachten an: Eines untersucht die Flugbahn der jeweiligen Kugeln und eines den Gesamtablauf des Vorfalls. Dazu kommen zwei psychiatrische Gutachten.
Gutachter widerspricht Notwehrsituation
Und eben bei den Untersuchungsberichten der vom Ermittlungsrichter genannten Experten liegt der Hase im Pfeffer: In einem der Gutachten kommt der Spezialist zum Schluss, dass sich der Polizeibeamte bei der Schussabgabe nicht in einer lebensbedrohlichen Situation befunden habe, die den Einsatz der Schusswaffe legitimieren könne. Das allerdings ist Voraussetzung für den gerechtfertigten und somit erlaubten Einsatz einer tödlichen Waffe durch die Polizei.
Die Staatsanwaltschaft hat daraufhin entschieden, den inzwischen 26-jährigen Schützen, der den Polizeidienst mittlerweile quittiert hat, wegen Totschlags anzuklagen. Im Prozess wird die Kriminalkammer nun binnen der kommenden drei Wochen in erster Instanz klären, ob der Beschuldigte als Polizist falsch gehandelt hat und den Autofahrer möglicherweise zu Unrecht getötet hat – oder ob er doch in Notwehr gehandelt hat.