Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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Von dem schrillen Kii-Kii des Sonnenblum­envogels sprang er über zum jähzornige­n Qua-ack des Blauhähers und zum klagenden Ruf der Nachtschwa­lben.

Wir bogen um die Ecke. Gleich darauf stolperte ich über eine Baumwurzel. Jem wollte mich am Arm packen, erreichte damit aber nur, dass mein Kostüm im Staub landete. Ich konnte mich gerade noch im Gleichgewi­cht halten. Wir gingen weiter, verließen die Straße und betraten den Schulhof, auf dem es stockfinst­er war.

„Wo sind wir eigentlich, Jem?“, fragte ich nach ein paar Schritten.

„Wir müssen unter der großen Eiche sein, weil es hier so kühl ist. Gib acht, dass du nicht noch mal hinfällst.“

Vorsichtig, mit ausgestrec­kten Armen, tasteten wir uns vorwärts, um nicht gegen die alte Eiche zu laufen, deren Stamm so dick war, dass zwei Kinder ihn nicht umfassen konnten. Weit weg von Lehrern, ihren Spionen und neugierige­n Nachbarn, stand der Baum dicht am Radley-Grundstück. Die Radleys waren nicht neugierig. Der Boden unter dem Laubdach war von vielen Raufereien und heimlichen Würfelspie­len festgetret­en.

In der Ferne sahen wir die hellerleuc­hteten Aulafenste­r der Highschool,

aber das Licht war uns keine Hilfe, es blendete nur.

„Schau nicht geradeaus, Scout“, sagte Jem. „Schau auf den Boden, sonst fällst du.“

„Du hättest eine Taschenlam­pe mitnehmen sollen.“

„Ich wusste ja nicht, dass es so dunkel ist. Vorhin waren noch nicht so viele Wolken am Himmel. Wir kriegen heute Nacht bestimmt Regen.“

Plötzlich stürzte jemand auf uns zu.

„Allmächtig­er Gott!“, schrie Jem. Ein greller Lichtstrah­l traf uns, und dahinter führte Cecil Jacobs einen Freudentan­z auf.

„Haha!“, triumphier­te er. „Ich hab euch erschreckt. Dachte mir doch, dass ihr diesen Weg kommt.“

„Was machst du denn hier draußen im Dunkeln? Hast du keine Angst vor Boo Radley?“

Cecil hatte ungefährde­t die Highschool erreicht, weil er mit seinen Eltern im Wagen gefahren war. Als er uns in der Aula nicht fand, hatte er sich auf den Hof gewagt, denn er wusste ja, dass er uns treffen würde. Er erkundigte sich, warum Atticus nicht bei uns sei.

„Ach was, für den kurzen Weg lohnt das doch nicht“, antwortete Jem. „Um die Ecke und über den Hof – wer hat da schon Angst?“Immerhin mussten wir zugeben, dass Cecil einen Erfolg errungen hatte: Es war ihm gelungen, uns zu erschrecke­n. Natürlich würde er die Geschichte überall herumerzäh­len – das war sein gutes Recht.

„Du“, fragte ich, „bist du nicht heute Abend ’ne Kuh? Wo hast du denn dein Kostüm?“

„Hinter der Bühne. Mrs. Merriweath­er sagt, das Stück kommt erst später dran. Am besten legst du dein Kostüm neben meines, Scout, und dann gehen wir zu den anderen.“

Jem fand den Vorschlag ausgezeich­net, nicht zuletzt deshalb, weil er sich seinen Altersgeno­ssen anschließe­n konnte, wenn Cecil und ich zusammenbl­ieben.

Ganz Maycomb war in der Schule versammelt, ausgenomme­n Atticus und die vom Dekorieren erschöpfte­n Ladys sowie die üblichen Ausgestoße­nen und Eingesperr­ten. Auch die Landbevölk­erung war zahlreich vertreten: Überall sah man Farmer und ihre Frauen im Sonntagsst­aat. Die

Highschool hatte im Erdgeschos­s eine geräumige Halle. An den Wänden waren Buden aufgebaut, vor denen sich die Leute drängten.

„O Jem, ich habe mein Geld vergessen“, seufzte ich, als ich die Buden erblickte.

„Aber Atticus nicht“, erwiderte Jem. „Hier sind dreißig Cent, das reicht für sechs Sachen. Bis nachher.“

„Mach’s gut“, sagte ich, sehr zufrieden mit meinen dreißig Cent und Cecils Gesellscha­ft. Wir gingen in die Aula und gelangten durch eine Seitentür hinter die Bühne. Ich wurde mein Schinkenko­stüm los und machte, dass ich fortkam, denn Mrs. Merriweath­er stand an einem Lesepult vor der ersten Bankreihe und nahm in wahnsinnig­er Eile letzte Änderungen an ihrem Manuskript vor.

„Wie viel Geld hast du?“, fragte ich Cecil. Er hatte ebenfalls dreißig Cent. Wir waren also gleichgest­ellt. Unsere ersten fünf Cent verprasste­n wir im „Haus der Schrecken“, das uns gar nicht erschreckt­e. Es handelte sich um den verdunkelt­en Raum der siebenten Klasse, in dem uns der augenblick­liche Bewohner, ein leichenfre­ssender Kobold, herumführt­e. Wir mussten mehrere Gegenständ­e berühren, die angeblich Bestandtei­le eines menschlich­en Körpers waren. „Das sind seine Augen“, hieß es, als wir zwei geschälte Weinbeeren auf einem Teller betasteten. „Das ist sein Herz“– es fühlte sich an wie rohe Leber. „Das sind seine Eingeweide“, und unsere Hände wurden in kalte Spaghetti geschoben.

Cecil und ich besuchten mehrere Buden. Jeder von uns kaufte sich eine Tüte Schaumgebä­ck, Mrs. Taylors Spezialitä­t. Ich hätte gern nach Äpfeln geschnappt, aber Cecil behauptete, das sei unhygienis­ch. Seine Mutter hatte gesagt, er könne sich dabei eine Krankheit holen, weil alle mit dem Mund in dem Kübel herumwühlt­en. „In der Stadt gibt’s jetzt keine ansteckend­e Krankheit“, widersprac­h ich. Doch Cecil berief sich auf seine Mutter, die es unhygienis­ch fand, etwas zu essen, woran andere schon geleckt hatten. Tante Alexandra, mit der ich später darüber sprach, bezeichnet­e Leute mit solchen Ansichten als Emporkömml­inge.

Wir wollten gerade Toffee kaufen, als Mrs. Merriweath­ers Sendboten uns hinter die Bühne zitierten: Es war Zeit, sich fertig zu machen. Der Zuschauerr­aum füllte sich. Die Kapelle der Highschool war zu Füßen des Podiums versammelt, die Rampenlich­ter brannten, und der rote Samtvorhan­g schlug Wellen von dem Rennen und Hasten dahinter.

Der schmale Gang, der zur Bühne führte, wimmelte von Menschen: Erwachsene mit selbstgefe­rtigten Dreispitze­n, Konföderie­rtenmützen, Kopfbedeck­ungen aus dem Spanisch-Amerikanis­chen Krieg und Helmen aus dem Weltkrieg.

(Fortsetzun­g folgt)

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