Die „Mutter aller Reformen“
Macron will das Rentensystem reformieren – das stößt auf Widerstand
Wenn in Frankreich das Wort „Rentenreform“fällt, werden sofort Bilder von Massendemonstrationen, still stehenden Zügen und generellem Chaos heraufbeschworen. So war es auch, als Emmanuel Macron vergangene Woche ankündigte, das Rentensystem reformieren zu wollen. Der Präsident hatte sich schon im Herbst 2019 an die „Mutter aller Reformen“gewagt, das Projekt dann aber auf Eis gelegt. Offiziell wegen der Corona-Pandemie, die in den Monaten danach alles überlagerte. Allerdings hatte wohl auch der massive Protest den Reformeifer des Staatschefs abgekühlt. Denn Hunderttausende waren im Dezember 2019 gegen das Projekt auf die Straße gegangen. Streiks bei der Staatsbahn SNCF und den Pariser Verkehrsbetrieben hatten den Zugverkehr tagelang weitgehend lahmgelegt. Solche Szenen könnten sich nun wiederholen.
Dabei hören sich Macrons Pläne durchaus moderat an. In Frankreich soll das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 oder 65 Jahre steigen. Zusätzlich sollen auch die 42 Sonderregelungen für einzelne Berufsgruppen reformiert werden, die bei der Rente für viel Ungleichheit sorgen. Ursprünglich waren die „Regimes spéciaux“für diejenigen gedacht, die besonders hart arbeiteten und deshalb früher in den Ruhestand durften. Was für Eisenbahner oder Bergarbeiter konzipiert war, wurde allerdings nach und nach auf andere Berufsgruppen ausgeweitet: Inzwischen gelten auch Sonderregelungen für Notarinnen und Notare, Angestellte des Stromkonzerns EDF, des renommierten Theaters Comédie Française oder der Oper.
Bis zum Sommer 2023 soll die Rentenreform über die Bühne gebracht werden. Ein Szenario sieht vor, das höhere Renteneintrittsalter als Zusatz in den Sozialversicherungshaushalt einzubauen, der ab 20. Oktober in der Nationalversammlung debattiert wird. Wenn der Widerstand in der ersten Parlamentskammer, in der Macron nur noch eine relative Mehrheit hat, zu groß ist, könnte der Präsident die Reform mit einem speziellen Gesetzesartikel am Parlament vorbei durchdrücken.
Gegen eine solche Brachialmethode regt sich allerdings auch bei Macrons Verbündeten Widerstand. Der Chef der Koalitionspartei Modem, François Bayrou, sprach sich dafür aus, die Reform in den kommenden Wochen in Gesprächen mit Gewerkschaften und Opposition gut vorzubereiten und dann als eigenes Gesetz im Januar einzubringen. Dieses langsamere Vorgehen würde auch besser zu Macrons Anspruch passen, in seiner zweiten Amtszeit weniger von oben herab zu regieren. Zu diesem Zweck hatte der Staatschef Anfang September den „Nationalen Rat der Neugründung“(CNR) ins Leben gerufen, in dem er den Dialog mit Vereinen, Bürgerinitiativen und Gewerkschaften sucht.
„Die Reaktionen werden auf der Höhe der Brutalität sein“
Die gemäßigte Gewerkschaft CFDT kündigte bereits an, den CNR zu verlassen, wenn Macron die Rentenreform über die Sozialversicherung durchdrücken sollte.
Mehrere Gewerkschaften setzten für Donnerstag einen Protesttag gegen Sozialreformen an, der dann auch gleich zur Mobilisierung gegen die Rentenreform genutzt werden soll. „Die Reaktionen werden auf der Höhe der Brutalität sein, mit der diese Entscheidung getroffen wurde“, kündigte Dominique Corona von der Gewerkschaft Unsa in der Zeitung „Journal du Dimanche“an.
Rentenreformen sind in Frankreich immer eine hochexplosive Angelegenheit, die sofort die Arbeitnehmerorganisationen auf den Plan rufen. Als 1953 der erste Anlauf gemacht wurde, die Sonderregelungen zu kippen, blockierten vier Millionen Streikende mitten in den Sommerferien das Land und zwangen so die Regierung, ihre Pläne zurückzunehmen. Mehr als 40 Jahre lang wagte sich dann keiner mehr an das heikle Thema, bis der konservative Präsident Jacques Chirac 1995 eine weitere Rentenreform in Angriff nahm. Chirac und sein Regierungschef Alain Juppé wollten damals die Rentenregelung für Angestellte von Staatsbetrieben an das private System anpassen. Doch Bahn und Pariser Verkehrsbetriebe traten in einen Streik, der sich drei Wochen hinzog und von massiven Kundgebungen begleitet wurde. Als am 12. Dezember 1995 zwei Millionen Menschen auf die Straße gingen, knickte die Regierung ein und zog die Reform zurück.
Nun will Macron einen neuen Anlauf wagen – auch wenn 55 Prozent seiner Landsleute gegen seine Pläne sind. Doch für den Präsidenten steht sein Ruf als Reformer auf dem Spiel. Wenn er sein heikles Projekt nicht gleich zu Beginn seiner zweiten Amtszeit anpackt, muss er es wohl ganz abhaken – und als „lahme Ente“in die Geschichte eingehen.
Für den Präsidenten steht sein Ruf als Reformer auf dem Spiel.