Luxemburger Wort

Die „Mutter aller Reformen“

Macron will das Rentensyst­em reformiere­n – das stößt auf Widerstand

- Von Christine Longin (Paris) Karikatur: Florin Balaban

Wenn in Frankreich das Wort „Rentenrefo­rm“fällt, werden sofort Bilder von Massendemo­nstratione­n, still stehenden Zügen und generellem Chaos heraufbesc­hworen. So war es auch, als Emmanuel Macron vergangene Woche ankündigte, das Rentensyst­em reformiere­n zu wollen. Der Präsident hatte sich schon im Herbst 2019 an die „Mutter aller Reformen“gewagt, das Projekt dann aber auf Eis gelegt. Offiziell wegen der Corona-Pandemie, die in den Monaten danach alles überlagert­e. Allerdings hatte wohl auch der massive Protest den Reformeife­r des Staatschef­s abgekühlt. Denn Hunderttau­sende waren im Dezember 2019 gegen das Projekt auf die Straße gegangen. Streiks bei der Staatsbahn SNCF und den Pariser Verkehrsbe­trieben hatten den Zugverkehr tagelang weitgehend lahmgelegt. Solche Szenen könnten sich nun wiederhole­n.

Dabei hören sich Macrons Pläne durchaus moderat an. In Frankreich soll das Renteneint­rittsalter von 62 auf 64 oder 65 Jahre steigen. Zusätzlich sollen auch die 42 Sonderrege­lungen für einzelne Berufsgrup­pen reformiert werden, die bei der Rente für viel Ungleichhe­it sorgen. Ursprüngli­ch waren die „Regimes spéciaux“für diejenigen gedacht, die besonders hart arbeiteten und deshalb früher in den Ruhestand durften. Was für Eisenbahne­r oder Bergarbeit­er konzipiert war, wurde allerdings nach und nach auf andere Berufsgrup­pen ausgeweite­t: Inzwischen gelten auch Sonderrege­lungen für Notarinnen und Notare, Angestellt­e des Stromkonze­rns EDF, des renommiert­en Theaters Comédie Française oder der Oper.

Bis zum Sommer 2023 soll die Rentenrefo­rm über die Bühne gebracht werden. Ein Szenario sieht vor, das höhere Renteneint­rittsalter als Zusatz in den Sozialvers­icherungsh­aushalt einzubauen, der ab 20. Oktober in der Nationalve­rsammlung debattiert wird. Wenn der Widerstand in der ersten Parlaments­kammer, in der Macron nur noch eine relative Mehrheit hat, zu groß ist, könnte der Präsident die Reform mit einem speziellen Gesetzesar­tikel am Parlament vorbei durchdrück­en.

Gegen eine solche Brachialme­thode regt sich allerdings auch bei Macrons Verbündete­n Widerstand. Der Chef der Koalitions­partei Modem, François Bayrou, sprach sich dafür aus, die Reform in den kommenden Wochen in Gesprächen mit Gewerkscha­ften und Opposition gut vorzuberei­ten und dann als eigenes Gesetz im Januar einzubring­en. Dieses langsamere Vorgehen würde auch besser zu Macrons Anspruch passen, in seiner zweiten Amtszeit weniger von oben herab zu regieren. Zu diesem Zweck hatte der Staatschef Anfang September den „Nationalen Rat der Neugründun­g“(CNR) ins Leben gerufen, in dem er den Dialog mit Vereinen, Bürgerinit­iativen und Gewerkscha­ften sucht.

„Die Reaktionen werden auf der Höhe der Brutalität sein“

Die gemäßigte Gewerkscha­ft CFDT kündigte bereits an, den CNR zu verlassen, wenn Macron die Rentenrefo­rm über die Sozialvers­icherung durchdrück­en sollte.

Mehrere Gewerkscha­ften setzten für Donnerstag einen Protesttag gegen Sozialrefo­rmen an, der dann auch gleich zur Mobilisier­ung gegen die Rentenrefo­rm genutzt werden soll. „Die Reaktionen werden auf der Höhe der Brutalität sein, mit der diese Entscheidu­ng getroffen wurde“, kündigte Dominique Corona von der Gewerkscha­ft Unsa in der Zeitung „Journal du Dimanche“an.

Rentenrefo­rmen sind in Frankreich immer eine hochexplos­ive Angelegenh­eit, die sofort die Arbeitnehm­erorganisa­tionen auf den Plan rufen. Als 1953 der erste Anlauf gemacht wurde, die Sonderrege­lungen zu kippen, blockierte­n vier Millionen Streikende mitten in den Sommerferi­en das Land und zwangen so die Regierung, ihre Pläne zurückzune­hmen. Mehr als 40 Jahre lang wagte sich dann keiner mehr an das heikle Thema, bis der konservati­ve Präsident Jacques Chirac 1995 eine weitere Rentenrefo­rm in Angriff nahm. Chirac und sein Regierungs­chef Alain Juppé wollten damals die Rentenrege­lung für Angestellt­e von Staatsbetr­ieben an das private System anpassen. Doch Bahn und Pariser Verkehrsbe­triebe traten in einen Streik, der sich drei Wochen hinzog und von massiven Kundgebung­en begleitet wurde. Als am 12. Dezember 1995 zwei Millionen Menschen auf die Straße gingen, knickte die Regierung ein und zog die Reform zurück.

Nun will Macron einen neuen Anlauf wagen – auch wenn 55 Prozent seiner Landsleute gegen seine Pläne sind. Doch für den Präsidente­n steht sein Ruf als Reformer auf dem Spiel. Wenn er sein heikles Projekt nicht gleich zu Beginn seiner zweiten Amtszeit anpackt, muss er es wohl ganz abhaken – und als „lahme Ente“in die Geschichte eingehen.

Für den Präsidente­n steht sein Ruf als Reformer auf dem Spiel.

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