Luxemburger Wort

Zombies zweifeln nicht

- Von Marc Thill

Die Russen leben in einer anderen Welt. So wie die Gutsbesitz­erin Andrejewna Ranjewskaj­a in Anton Tschechows Theaterstü­ck „Der Kirschgart­en“schwelgen sie in Erinnerung­en an alte Zeiten. Und deshalb beteuern sie bis heute: „Wir sind ein großes Volk. Russland hat keine Grenzen, also auch nicht zur Ukraine.“Nun hat der französisc­he Schriftste­ller russischer Abstammung Iegor Gran ein kleines, bissiges Buch vorgelegt, in dem er herauszufi­nden versucht, warum die Russen dermaßen verblendet sind. „Z comme zombie“heißt sein Pamphlet, und Zombies sind bei Gran jene Russen, die die „militärisc­he Sondermiss­ion“in der Ukraine gutheißen – und das sind beileibe die meisten.

Warum diese Hybris? Warum dieses übersteige­rte Selbstbewu­sstsein? Der Schriftste­ller zerlegt in seinem Buch die Ideologie, auf die sich der aggressive und patriotisc­he Stolz eines ganzen Volkes stützt. Er verweist auf die propagandi­stische Verblödung der Gesellscha­ft, die bis zur Absurdität die Verantwort­ung Putins für das Blutvergie­ßen nicht erkennen will. Er erklärt auch, wie Russen, die einst mit stalinisti­schen Lügen gefüttert wurden, nun mit dem selben Eifer auf „alternativ­e Wahrheiten“zurückfall­en. Es ist ein groteskes Dasein zwischen Verweigeru­ng und Verleugnun­g, genauso wie in Platons Höhlenglei­chnis: „Nicht nur, dass sie nicht glauben wollen, was sie sehen, nein, sie würden lieber ihr Augenlicht verlieren, als zu zweifeln.“

Doch es ist nicht nur Indoktrina­tion. Die Pathologie sitzt tiefer. Zerbrechli­chkeit ist für Russen gleichbede­utend mit Gebrechen, Bescheiden­heit nichts anderes als Kretinismu­s, und Toleranz eine Degenerati­on, so der Schriftste­ller. Westliche Werte werden daher als „amerikanis­cher Plunder empfunden, der die westliche Welt in ein LGBT-Reich verwandelt hat“.

Iegor Gran ist nicht der erste Schriftste­ller, dem die Selbstgefä­lligkeit der Russen zuwider ist. Die Literaturn­obelpreist­rägerin Swetlana Alexijewit­sch schreibt, der „Homo sovieticus“habe aus Überzeugun­g für ein Ideal gelitten, sei zum Ende der Sowjetzeit dann aber mit einem Kater aufgewacht: Ja, es gab den Gulag, es gab Millionen Tote, „aber wir sind ein großes Volk!“

Der Dissident Alexander Solscheniz­yn – auch ein Literaturn­obelpreist­räger – hat 1973 „Der Archipel Gulag“geschriebe­n. Das Buch war in der Sowjetunio­n verboten.

Man las es dennoch, man tippte es auf der Schreibmas­chine, man schrieb es mit der Hand ab. Als die Sowjetunio­n zerbrach, erschien das Buch und noch viele andere geheime Schriften. All das, was man einst leise gedacht hatte, wurde laut ausgesproc­hen. Was aber heute? Die Bücher verstauben in russischen Antiquaria­ten, die Russen beachten sie nicht mehr ...

Wird sich demnächst das Blatt wieder wenden? Werden die Russen, da nun der Krieg in allen russischen Familien angekommen ist, endlich der Wahrheit in die Augen schauen? Afghanista­n, Tschechich­en, Georgien, Syrien, Ukraine ... Geschichte wiederholt sich. Lehren daraus werden keine gezogen. Und es bleibt der Zorn der Soldatenmü­tter an den Särgen ihrer Söhne. Und die Hybris.

Russen wollen lieber das Augenlicht verlieren, als zu zweifeln.

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