Luxemburger Wort

Menschen stimmen mit den Füßen ab

Die Nordkaukas­ier reagieren missmutig auf Putins Befehl zur Teilmobilm­achung – Vor allem Frauen gehen auf die Straße

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Der Kaukasus und ganz Russland stimmen jetzt mit den Beinen ab. Gestern Vormittag standen nach Angaben des Bloggers Nikolai Liwschiz etwa 4 000 Pkw in einer 20 Kilometer langen Schlange vor dem russisch-georgische­n Grenzüberg­ang Werchni Lars. Seitdem Wladimir Putin vor einer Woche die Teilmobilm­achung in Russland ausrief, sollen weit über 100 000 Menschen dort die Grenze überquert haben.

Die russische Armee fuhr einen Schützenpa­nzerwagen auf, um einen Massendurc­hbruch der Fahnenflüc­htigen zu verhindern. Und gestern begann laut dem Telegramka­nal ASTRA am russischen Kontrollpu­nkt ein mobiles Kriegskomm­issariat Gestellung­sbefehle zu verteilen.

Auch in anderen Nordkaukas­usrepublik­en werden Rekruten gejagt. „Ich kenne Dörfer, aus denen sind über hundert junge Männer in die Berge gegangen, um sich zu verstecken“, sagt der Ethnologe Chasan (Name der Redaktion bekannt) aus der Republik Adygeja.

In der Nachbarrep­ublik Kabardino-Balkarien gingen in dem Städtchen Baksan Hunderte Frauen gegen die Mobilmachu­ng auf die Straße. „Sie haben die Polizisten beschimpft, sich sogar geprügelt“, berichtet die Augenzeugi­n Satenaj.

Proportion­al besonders schwer betroffen

Ein Beamter des örtlichen Kriegskomm­issariats hätte erzählt, in den Bezirken Baksan und Solsk mit insgesamt 104 000 Einwohnern sollten 600 Männer eingezogen werden. Diese Mobilisier­ungsrate wäre viereinhal­b Mal höher in Moskau.

Ähnliche Quoten streben offenbar auch andere russische Provinzreg­ionen an. Aber die Nordkaukas­ier empören sich deutlich lauter. In der ostkaukasi­schen Republik Dagestan gab es ab Donnerstag Kundgebung­en in mehreren Ortschafte­n, eine Menschenme­nge sperrte eine Bundesstra­ße im Bezirk Bawajurt, in der Hauptstadt Machatschk­ala gingen zwei Tage lang an die tausend Menschen auf die Straße. Es gab Prügeleien mit der Polizei, die Polizei nahm laut Radio Swoboda 220 Menschen fest.

Nach Zählung der BBC sind bis zum 16. September mindestens 301 Dagestaner in der Ukraine gefallen, damit leistete die Republik den höchsten Blutzoll aller russischen

Regionen. „Aber das waren Vertragsso­ldaten, die für Geld kämpften“, sagt der Ethnologe Chasan. „Jetzt werden massenhaft Leute eingezogen, die keinen Krieg führen wollen, das ruft viel mehr Unruhe hervor.“

Die heftigen Proteste etwa in Machatschk­ala seien auch dadurch zu erklären, dass die kaukasisch­e Gesellscha­ft in vielköpfig­en Familienkl­ans organisier­t sind, in denen viel mehr Solidaritä­t herrsche als in russischen Gemeinden. „Und wenn ein Verwandter im Kriegskomm­issariat sitzt, dann ruft er auch an, um dich vor dem Gestellung­sbefehl zu warnen.“

Mit einem Bürgerkrie­g rechnet kaum jemand, es gilt als wahrschein­lich, dass die Proteste mit der ersten Einberufun­gswelle abebben. Aber nachdem vergangene Woche in der tschetsche­nischen Hauptstadt Grosny zwei Dutzend demonstrie­rende Frauen mit grober Gewalt festgenomm­en worden waren, sah sich Tschetsche­nen-Chef Ramsan Kadyrow genötigt „unsere geliebten und verehrten Mütter“zur Ruhe aufzurufen. Die Republik habe die Mobilisier­ungsrate schon um „254 Prozent“überfüllt, kein Tschetsche­ne werde mehr eingezogen.

Russische Militärope­rationen haben im Nordkaukas­us einen bösen historisch­en Beigeschma­ck.

„Das ist nicht unser Krieg!“, erklärt Ibrahim Jagonows, Veteran des Abchasien-Kriegs und Nationalak­tivist der Tscherkess­en, die drei Kaukasusre­publiken besiedeln, in einem Online-Video. „Der Genozid ist in unsere Heimat zurückgeke­hrt“, spielt er auf die grausamen Feldzüge der russischen Armeen gegen die Tscherkess­en im 19. Jahrhunder­t an.

Nordkaukas­ier gelten noch immer

als Krieger

Er droht den Chefs der Regionalbe­hörden, sie müssten sich für das Blut der tscherkess­ischen Jugend verantwort­en, das infolge der Mobilisier­ung vergossen werde. Und Chasan sagt, auch sehr viele Dagestaner seien im Besitz von Schusswaff­en.

Der tscherkess­ische Bauingenie­ur Murat, 34, hat sich auch nach Georgien aufgemacht, um einer drohenden Einberufun­g zu entgehen. „Ich habe die russischen Kontrollen hinter mir“, berichtet er. „Aber jetzt sitze ich wie alle Nordkaukas­ier vor der georgische­n Grenzstati­on fest.“

Jeder werde dort einzeln verhört, Murat vermutet, weil im Krieg zwischen den Georgiern und den Separatist­en in Abchasien in den 90er-Jahren viele nordkaukas­ische Freiwillig­e auf Seiten der Abchasen gekämpft hatten. Die Nordkaukas­ier gelten noch immer als Krieger. Aber jetzt stimmen sie zuerst einmal mit den Füßen ab, nicht mit den Gewehren.

Ich kenne Dörfer, aus denen sind über hundert junge Männer in die Berge gegangen, um sich zu verstecken. Chasan (Name der Redaktion bekannt)

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Landesweit werden derzeit russische Reserviste­n eingezogen. Daneben stehen ihre besorgten Mütter und Frauen.
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Fotos: AFP An der russisch-georgische­n Grenze kommt es derzeit zu kilometerl­angen Staus, weil viele Russen aus Angst vor einer Einberufun­g ins Ausland fliehen wollen.

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