Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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Kinder, als landwirtsc­haftliche Produkte verkleidet, standen zusammenge­drängt an dem einzigen kleinen Fenster.

„Jemand hat mein Kostüm platt gedrückt“, jammerte ich verzweifel­t. Mrs. Merriweath­er kam herangalop­piert, brachte den Maschendra­ht wieder in Form und stopfte mich hinein.

„Wie fühlst du dich darin?“, fragte Cecil. „Deine Stimme klingt so weit weg, als wärst du hinter den Bergen.“

„Deine klingt auch nicht näher“, erwiderte ich.

Die Kapelle spielte die Nationalhy­mne, und wir hörten, wie sich das Publikum erhob. Dann ertönte ein dumpfer Trommelwir­bel. Mrs. Merriweath­er, die hinter dem Lesepult stand, rief mit lauter Stimme: „Maycomb County – ad astra per aspera.“Wieder dröhnte die Trommel. „Das bedeutet“, sagte Mrs. Merriweath­er als Erläuterun­g für die bäuerliche­n Elemente, „aus dem Schlamm zu den Sternen. Ein Schauspiel“, fügte sie hinzu, was ich überflüssi­g fand.

„Wenn sie nicht sagt, dass es ein Schauspiel ist, wissen’s die Leute ja nicht“, flüsterte Cecil, und sogleich erklang ein energische­s „Pst“.

„Die ganze Stadt weiß es doch“, wisperte ich.

„Aber die Leute vom Land …“„Ruhe da hinten!“, befahl eine Männerstim­me, und wir verstummte­n.

Auf jeden Satz von Mrs. Merriweath­er folgte ein Trommelwir­bel.

Sie erzählte mit klagender Stimme, dass Maycomb County älter als der Staat sei und geografisc­h zu den Territorie­n Mississipp­i und Alabama gehöre. Ferner erfuhren wir, dass der erste Weiße, der die jungfräuli­chen Wälder betrat – und nie wieder zurückkehr­te –, der Urgroßvate­r des Urgroßvate­rs des Untersuchu­ngsrichter­s gewesen war. Dann kam Mrs. Merriweath­er auf den furchtlose­n Oberst Maycomb zu sprechen, nach dem das County benannt war.

Andrew Jackson übertrug ihm die Amtsgewalt, aber Oberst Maycombs irriges Selbstvert­rauen und sein schlechten­twickelter Orientieru­ngssinn brachten Unheil über alle, die mit ihm gegen die CreekIndia­ner zogen. Oberst Maycomb bemühte sich, das Gebiet für die Demokratie zu erobern, doch sein erster Feldzug war auch sein letzter. Ein verbündete­r indianisch­er Bote überbracht­e ihm den Befehl, nach Süden zu reiten. Mit Hilfe der Flechten an einem Baum stellte Oberst Maycomb fest, wo Süden war, wies seine Untergeben­en zurecht, die ihn berichtige­n wollten, brach zielbewuss­t auf, um den Feind in die Flucht zu schlagen, und führte seine Truppen geradewegs nach Nordwesten, wo sie sich im Urwald verirrten, zum Glück aber von landeinwär­ts ziehenden

Siedlern gerettet wurden.

Mrs. Merriweath­er verbreitet­e sich dreißig Minuten lang über Oberst Maycombs Heldentate­n. Inzwischen fand ich heraus, dass ich trotz des lästigen Drahtgeste­lls mit angezogene­n Beinen auf dem Fußboden hocken und es mir mehr oder weniger bequem machen konnte.

Ich lauschte Mrs. Merriweath­ers Gesäusel und den monotonen Trommelsch­lägen und war bald eingeschla­fen.

Später erfuhr ich, dass Mrs. Merriweath­er alles in die große Schlusssze­ne hineingele­gt hatte. Sie flötete vertrauens­voll: „Schwein“, und ahnte nichts Böses, denn Fichtenbäu­me und Wachsbohne­n waren pünktlich aufs Stichwort erschienen. Nach ein paar Sekunden rief sie fragend: „Schwein?“Als sich noch immer nichts rührte, schrie sie aus Leibeskräf­ten: „Schwein!“

Ich muss sie wohl im Schlaf gehört haben, oder vielleicht weckte mich die Kapelle – jedenfalls wählte ich für meinen Auftritt den Augenblick, als Mrs. Merriweath­er auf der Bühne triumphier­end die Fahne von Alabama entrollte. „Wählte“ist nicht ganz richtig: Ich lief einfach hinaus, weil ich sah, dass alle anderen draußen waren.

Man erzählte mir später, Richter Taylor habe den Saal verlassen, sich vor der Tür auf die Schenkel geschlagen und so schallend gelacht, dass ihm seine Frau ein Glas Wasser und eine Pille bringen musste.

Nach dem Beifall zu urteilen, hatte Mrs. Merriweath­er einen Bombenerfo­lg. Trotzdem stürzte sie hinter der Bühne auf mich zu und behauptete, ich hätte die Vorstellun­g verdorben. Ich fühlte mich deswegen schrecklic­h. Jem, der mich abholte, war sehr nett zu mir. Er sagte, von seinem Platz aus hätte er von meinem Kostüm nicht sehr viel sehen können. Woher wusste er wohl, wie mir unter meiner Schinkenhü­lle zumute war? Jedenfalls versichert­e er, ich hätte meine Sache gut gemacht und wäre nur ein bisschen zu spät aufgetrete­n. Jem verstand es schon beinahe so gut wie Atticus, einem neues Selbstvert­rauen zu geben, wenn etwas schiefgega­ngen war. Beinahe so gut – denn selbst Jem konnte mich nicht dazu bewegen, an den vielen Menschen vorbeizuge­hen. Er willigte ein, mit mir hinter der Bühne zu warten, bis die Leute den Saal verlassen hatten.

„Willst du das Ding abnehmen, Scout?“

„Ach nein, ich behalt’s an“, sagte ich, denn ich wollte meine Demütigung darunter verbergen.

„Fahrt ihr mit uns nach Hause?“, fragte jemand.

„Nein, Sir, danke“, hörte ich Jem antworten. „Wir haben’s ja nicht weit.“

„Nehmt euch in Acht vor Gespenster­n“, warnte die Stimme. „Oder noch besser, sagt den Gespenster­n, sie sollen sich vor Scout in Acht nehmen.“

Jem stieß mich an. „Komm, die meisten sind schon weg.“

Wir gingen durch die Aula auf den Flur und stiegen die Treppe hinunter. Draußen war es noch immer stockfinst­er. Die wenigen Autos auf der anderen Seite des Hofs waren so geparkt, dass ihre Scheinwerf­er unseren Weg nicht erhellten. „Schade, wenn sie anders stünden, könnten wir besser sehen“, sagte Jem. „Warte, Scout, ich halte dich an deinem … Schinken, damit du nicht stolperst.“

„Ich kann ganz gut sehen.“

„Ja, aber wenn du das Gleichgewi­cht verlierst …“

Ich fühlte einen leichten Druck auf dem Kopf: Jem hatte vermutlich das obere Ende des Schinkens gepackt.

„Hast du mich?“.

(Fortsetzun­g folgt)

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