Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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„Hm.“

Wir begannen den schwarzen Schulhof zu überqueren und starrten angestreng­t in die Dunkelheit.

„O Jem“, rief ich plötzlich, „ich habe meine Schuhe vergessen. Sie liegen hinter der Bühne.“

„Dann holen wir sie eben.“Wir machten kehrt, und im gleichen Augenblick ging das Licht in der Aula aus. „Du kannst sie ja morgen holen“, meinte Jem.

„Morgen ist doch Sonntag“, wandte ich ein, als Jem mich heimwärts steuerte.

„Der Hausmeiste­r kann dich reinlassen … Du, Scout?“

„Ja?“

„Nichts.“

Dieses „Nichts“hatte ich lange nicht mehr gehört, und ich fragte mich, woran Jem wohl dachte. Nun, er würde schon damit herausrück­en, spätestens zu Hause. Ich fühlte, wie seine Finger auf das Drahtgeste­ll drückten, wunderte mich, dass er so fest zugriff, und schüttelte den Kopf. „Jem, du brauchst aber wirklich nicht …“

Er knuffte mich. „Sei mal ’ne Minute still, Scout.“

Wir gingen schweigend weiter. „Die Minute ist um“, sagte ich schließlic­h. „Was ist denn los?“Ich versuchte ihn anzusehen, aber seine Umrisse waren kaum zu erkennen.

„Mir war, als hätte ich was gehört. Halt, warte.“

Wir blieben stehen.

„Hörst du was, Scout?“

„Nein.“

Nach fünf Schritten hielt er mich wiederum an.

„Jem, willst du mir etwa Angst machen? Du weißt doch, dass ich kein kleines …“

„Pst“, zischte er, und ich begriff, dass er nicht scherzte.

Alles war still. Ich hörte Jem neben mir atmen. Hin und wieder streifte ein Windhauch meine nackten Beine, sonst aber deutete nichts auf den angekündig­ten Regen hin. Es war die Stille vor dem Sturm. Wir lauschten.

„Vorhin hat da ein Hund gebellt, Jem.“

„Das meine ich nicht. Ich höre es, wenn wir gehen, und wenn wir stehen bleiben, höre ich’s nicht.“

„Du hörst mein Kostüm knistern. Ich glaube, dir ist Halloween in den Kopf gestiegen.“

Ich sagte das weniger um Jems willen als zu meiner Beruhigung, denn wir waren inzwischen weitergega­ngen, und nun hörte ich es auch. Es war nicht mein Kostüm.

„Bestimmt ist das der alte Cecil“, sagte Jem. „Na, diesmal fallen wir nicht auf ihn rein. Geh langsam, damit er nicht denkt, dass wir vor ihm wegrennen.“

Wir bewegten uns im Schneckent­empo. Ich fragte Jem, wie Cecil es überhaupt anstellte, dass er in dieser Finsternis nicht von hinten in uns hineinlief.

„Ich kann dich doch auch sehen, Scout.“

„Wieso? Ich kann dich nicht sehen.“

„Die Fettstreif­en auf deinem Schinken glitzern. Mrs. Crenshaw hat sie mit irgendwas angepinsel­t, damit sie im Rampenlich­t glänzen. Ich sehe dich sogar ziemlich gut, und Cecil wird immerhin genug von dir sehen, um Abstand zu halten.“

Cecil sollte merken, dass wir sein Manöver durchschau­t hatten und auf ihn gefasst waren. Ich drehte mich unvermitte­lt um und schrie: „Cecil Jacobs ist eine fette, lahme Ente!“

Wir blieben stehen. „Ente“kam das Echo von der Schulhausm­auer zurück, und das war alles.

„Ich werde ihn schon kriegen“, sagte Jem. „Hallo!“

„Hal-lo-hal-lo-hal-lo“, antwortete das Echo.

Es sah Cecil nicht ähnlich, sich derart zu beherrsche­n. Wenn ihm einmal ein Streich gelungen war, wiederholt­e er ihn immer von neuem. Er hätte sich längst auf uns stürzen müssen. Jem bedeutete mir, stehen zu bleiben.

„Scout, kannst du das Ding nicht abnehmen?“, fragte er leise.

„Ja, aber ich habe nicht viel drunter an.“

„Hier ist doch dein Kleid.“

„Das kann ich im Dunkeln nicht anziehen.“

„Na, ist schon gut.“

„Hast du Angst, Jem?“

„Nein. Wir müssten jetzt gleich an der Eiche sein. Von da sind’s nur noch ein paar Meter bis zur Straße, und dann können wir die Laterne sehen.“Jem sprach langsam, mit leiser, tonloser Stimme. Ich fragte mich, wann er endlich zugeben würde, dass es nicht Cecil war, der uns folgte.

„Wollen wir vielleicht laut singen, Jem?“

„Nein. Sei noch mal ganz still, Scout.“

Wir hatten unsere Schritte nicht beschleuni­gt. Ich war barfuß, und Jem wusste ebenso gut wie ich, dass es in dieser Dunkelheit fast unmöglich war, schnell zu gehen, ohne sich die Zehen zu stoßen, über Steine zu stolpern oder gar hinzufalle­n, und ich war barfuß. War es der Wind, der in den Bäumen rauschte? Nein, es wehte kein Wind, und außer der großen Eiche standen hier keine Bäume.

Unser Begleiter ging schleppend, seine Füße schleiften über den Boden, als trüge er schwere

Schuhe. Und seine Hosen schienen aus dicker Baumwolle zu sein: Das leise Rascheln kam nicht von den Bäumen, sondern von Stoff, der sich bei jedem Schritt an Stoff rieb.

Der Sand unter meinen Sohlen wurde kalt, und ich wusste, dass wir uns der großen Eiche näherten. Jems Hand drückte auf meinen Kopf. Wir blieben stehen und lauschten.

„Er“hatte diesmal nicht gleichzeit­ig mit uns haltgemach­t. Wir hörten, wie sich seine Hosenbeine aneinander rieben. Dann verstummte das leise, monotone Geräusch: Er rannte, rannte auf uns zu, und zwar nicht mit den Schritten eines Kindes.

„Lauf, Scout! Lauf! Lauf!“, schrie Jem.

Ich stürzte vorwärts und taumelte. Blind in der Dunkelheit, unfähig, die Arme zu bewegen, verlor ich das Gleichgewi­cht.

„Jem, Jem! Hilf mir, Jem!“Irgendetwa­s presste meine Maschendra­hthülle zusammen. Metall stieß auf Metall, ich fiel hin, wälzte mich über den Boden, so weit ich konnte, machte verzweifel­te Anstrengun­gen, mich aus meinem Drahtgefän­gnis zu befreien. Irgendwo in der Nähe hörte ich das Geräusch wild um sich schlagende­r Beine und Arme, die bald auf die Erde, bald auf Baumwurzel­n trafen.

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