Rote Welle
Frankreichs Profifußball diskutiert über eine Flut an Platzverweisen
Manchmal ist es einfach Ungeschicklichkeit. Zu beobachten etwa bei dem für Nice spielenden Verteidiger Jean-Clair Todibo, der seinen Gegenspieler Abdallah Dipo Sima ungestüm „von den Beinen holte“, wie die Fußballer sagen. Da Sima nach Ansicht von Schiedsrichter Bastien Dechepy freie Bahn aufs gegnerische Tor gehabt hätte, zeigte dieser Todibo die Rote Karte – nach nur neun Sekunden Spielzeit.
Dieser Platzverweis in der Partie zwischen Nice und Angers war nicht nur einer der schnellsten, die je im modernen Fußball verhängt wurden, sondern auch Teil einer roten Welle, die derzeit durch die Stadien der Ligue 1 schwappt. Ganze 34 Mal hielten die Unparteiischen während der ersten acht Spieltage den roten Karton in die Luft. Der dritte Spieltag mit seinen elf Roten und Gelb-Roten Karten bedeutet sogar einen neuen Rekord, seitdem derartige Statistiken in Frankreich geführt werden. Sind die Spieler im Hexagon einfach undisziplinierter als anderswo oder haben die Schiedsrichter zu wenig Fingerspitzengefühl? Eine Spurensuche in aufgeheizter Atmosphäre.
Die rote Flut sorgt nämlich nicht nur für mehr Platz auf dem Rasen, sondern auch für erregte Gemüter. „Ich weiß, dass in diesem Jahr die kleinen Clubs absteigen müssen, doch es reicht langsam!“, schimpfte Jean-Pierre Caillot, der Präsident von Reims, das mit fünf Roten Karten den unrühmlichen letzten Platz der Fairness-Tabelle einnimmt. Womit er die Schiedsrichter ziemlich unverblümt verdächtigte, bei der Verkleinerung der Ligue 1 von 20 auf 18 Vereine, die in dieser Saison greift, dafür zu sorgen, dass es auch ja die „Richtigen“erwische.
Tatsächlich blieb etwa Serienmeister Paris SG, das finanzielle Zugpferd der Liga, bislang von harten Sanktionen verschont. Dass Verteidiger Presnel Kimpembe, bereits mit Gelb vorbelastet, das Spiel gegen Brest trotz eines gefährlichen Tacklings und einer verbalen Auseinandersetzung mit dem Schiedsrichter – „Fass mich nicht an, Bruder!“– beenden durfte, ist selbst bei nachsichtiger Regelauslegung nur schwer nachvollziehbar. Allerdings zeigt ein Blick auf die Statistik, dass auch Mannschaften wie Monaco oder Nice, die beileibe nicht zu den „Kleinen“der Liga gehören, mit je drei Roten Karten hart bestraft wurden.
Lannoy: „Keine größere Strenge“Was den Blick auf die Schiedsrichter lenkt. Traditionell nutzen sie die Sommerpause, um sich mit eventuellen Regeländerungen vertraut zu machen und die Instruktionen ihrer Obmänner entgegenzunehmen. Haben die Männer und Frauen in Schwarz also Anweisung erhalten, in dieser Saison härter durchzugreifen? Stéphane Lannoy, stellvertretender Technischer Direktor für das Schiedsrichterwesen beim Fußballverband FFF, winkt ab: „Es gibt keine größere Strenge. Nur die gleiche
Forderung, den Fußball zu schützen“, betonte er gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. Allerdings räumte er ein, dass die Schiedsrichter gegen Beschwerden der Spieler – die berühmte Rudelbildung – härter durchgreifen sollten. Zu spüren bekam dies etwa Romain Salin: Der Torhüter in Diensten von Rennes kritisierte die Entscheidungen der Unparteiischen im Spiel gegen Ajaccio derart heftig, dass er mit einer GelbRoten Karte in die Kabine geschickt wurde. Duschen musste der 38-Jährige dort allerdings nicht unbedingt – er hatte das Spiel auf der Ersatzbank zugebracht.
Das alles könnte man unter der Kategorie „französische FußballFolklore“einordnen, wären da nicht die internationalen Wettbewerbe. Denn in anderen europäischen Ligen leuchtet die rote Farbe
deutlich seltener. Wie die Tageszeitung „Le Figaro“vorrechnete, stellen die 34 bislang in der Ligue 1 verhängten Platzverweise beinahe das Neunfache der englischen Premier League (vier Rote Karten), das Dreifache der deutschen Bundesliga (zwölf) und mehr als das Doppelte der italienischen Serie A (15) dar. Selbst die als durchaus hart bekannte spanische La Liga kann mit 21 Roten und Gelb-Roten Karten nicht mit dem nördlichen Nachbarn mithalten.
Emotionen verboten
Gut möglich, dass sich die französischen Teams, die im Europapokal antreten, in Zukunft bewusst auf eine andere Regelauslegung vorbereiten müssen. Zumal die französischen Schiedsrichter zuweilen über das Ziel hinauszuschießen scheinen.
So holte sich besagter Verteidiger Todibo aus Nice im Duell mit Clermont eine zweite Gelbe Karte ab, da er aus Verärgerung den Ball weggeschlagen hatte. „Das Problem ist leider, dass wir jetzt keine Emotionen mehr auf dem Platz zeigen dürfen“, beklagte sich der 22-Jährige hinterher. Manchmal ist es einfach Übereifer der Schiedsrichter.