Das Trauma überwinden
Am „Orange Shirt Day“gedenken die Kanadier der Opfer der berüchtigten Umerziehungsinternate für indigene Kinder – eine Reportage
„Jede Familie hat ihre eigenen Geschichten, ihr eigenes Trauma“, sagt Klemkwateki Randy Louie, mit Blick über den gewaltigen Meeresarm des Desolation Sound. „Die Internate wirken bis heute nach.“An der rauen Küste British Columbias ist es an diesem Abend ungewöhnlich still. „Mein Vater starb, als ich zwei Jahre alt war, bei einem Autounfall unter Alkoholeinfluss. Auch meine Mutter hatte ein Alkoholproblem.“Wenn der 49-Jährige von seinen Eltern berichtet, ist der Schmerz spürbar, der auch noch nach Jahrzehnten nachhallt. „Erst vor acht Jahren hörte ich zum ersten Mal, dass mein Vater an einer Residential School war“, erzählt Louie, „Ich erfuhr, dass er als Aufpasser dort für die jüngeren Kinder verantwortlich war. Er war zuständig, wenn sie in die Betten nässten.“
Am Lagerfeuer vor dem Klahoose Wilderness Resort, einer erst im letzten Jahr von dem gleichnamigen First Nation-Stamm geführten Lodge, sind sonst meist die Grizzlys aus dem nahen Toba Inlet Hauptthema. Doch die Klahoose hoffen, dass ihre in- und ausländischen Gäste nicht nur mit Erinnerungen von der einzigartigen Natur ihrer Heimat zurückkehren. Für die Ureinwohner ist die atemberaubende Fjordlandschaft, durch die noch immer Buckelwale und Orkas ziehen, Wiege ihrer Kultur und einer Geschichte, die von Stolz und Leid gleichermaßen geprägt ist.
„Kultureller Genozid“
Es musste einige Zeit vergehen, bis Louie offen über seine Familiengeschichte erzählen konnte, vor Touristen genauso wie vor Jugendlichen seines Stamms der Klahoose. Seine Großmutter hatte den Jungen in ein traditionelles Langhaus geschickt, wo er in die Bräuche und die Spiritualität seiner Ahnen eingeweiht wurde. „Sie hat gesehen, dass ich dort meine Traumata überwinden kann.“Heute lehrt Louie selbst in verschiedenen Langhäusern und seine Kinder besuchen sie. „Die Jugendlichen beginnen, sich immer mehr für ihr kulturelles und spirituelles Erbe zu interessieren“, sagt Louie. Die Erinnerung an die Residential Schools ist ihm dabei besonders wichtig.
Noch bis in die 90er-Jahre wurden in Kanada Kinder aus indigenen Familien in Umerziehungsinternate gebracht. Etwa 150 000 Kinder der First Nations, Métis und Inuit wurden in über 130 Residential Schools umerzogen, ausgebeutet und missbraucht.
Der 30. September steht in Kanada wie kein anderer Tag für die leidvolle Vergangenheit, aber auch für das neue Selbstbewusstsein der First Nations. Er ist erst seit 2021 ein nationaler Gedenktag. Der Name geht auf das orangefarbene Hemd zurück, das Phyllis Webstad, einer Zeitzeugin, am Tag ihrer Einschulung in ihrem Internat in British Columbia weggenommen wurde. Am offiziellen „Nationalfeiertag für Wahrheit und Versöhnung“tragen viele Kanadier deshalb orangene T-Shirts, oft mit der Aufschrift „Every Child Matters“. Über die Entdeckung von 215 Kinderleichen im Mai 2021 auf dem Gelände des Internats von
Kamloops in British Columbia wurde weltweit berichtet. Historiker gehen inzwischen von bis zu 6 000 Kindern aus, die durch Krankheiten, Unterernährung und Missbrauch ihr Leben ließen.
Die von der kanadischen Regierung zur Aufarbeitung einberufene National Truth and Reconciliation Commission sprach 2015 erstmals von einem „kulturellen Genozid“. Die mittlerweile verstorbene Queen Elizabeth II. bekundete als Königin von Kanada noch im letzten Jahr zur Gründung des nationalen Gedenktags ihre Anteilnahme: „Gemeinsam mit allen Kanadiern gedenke ich an diesem ersten Nationaltag für Wahrheit und Versöhnung der schmerzhaften Geschichte, die die indigenen Völker in den Residential Schools ertrugen.“
Schmerzhafte Erinnerungen
„Meine Mutter hatte bereits geahnt, dass die Transporter auch für uns kommen würden“, sagt Jamena James Allen, mit Blick über den Kluane-See auf das majestätische Bergpanorama der Eliaskette im Yukon. Der 75-Jährige verbrachte seine Kindheit nicht weit von hier. Unweit der Grenze zu Alaska sind die Gipfel höher als irgendwo sonst in Kanada. Mit fast 6 000 Metern ist der Mount Logan nur einer von unzähligen Gipfeln, die aus dem größten Eisfeld außerhalb der Polregionen ragen.
„Meine Mutter ist hier noch fast ohne Kontakt nach außen aufgewachsen“, erzählt der Tutchone. „Meine Großeltern zogen zwischen ihren Sommer- und Winterquartieren umher, wie schon vor Jahrhunderten.“Die Welt aus Allens frühen Kindheitserinnerungen gibt es nicht mehr. In den Händen hält der alte Mann mit dem dichten, silbern glänzenden Haar ein Malbuch, das sein Volk für die nachgeborene Generation herausgebracht hat. Auf einer der Seiten zeigt es einen Lastwagen, der auf seiner Ladefläche acht Kinder vor den Augen ihrer Eltern zu einem Steinhaus bringt. Davor wartet eine Nonne mit schwarzem Schleier auf sie. „Als ich sieben war, haben sie mich, meinen Bruder und meine Schwester abgeholt“, erzählt Allen, „meine Eltern wurden vorab nicht informiert.“Ziel des Transporters war die mehr als 200 Kilometer entfernte Choutla Residential School in Carcross ganz im Süden des Yukon an der Grenze zu British Columbia. Sie wurde von der anglikanischen Kirche geführt. Für Allens Eltern waren ihre Kinder damit in eine unerreichbare Ferne verschleppt worden.
„Uns wurden am ersten Tag die Haare geschoren und wir wurden in eine Schuluniform gesteckt. Sie hatten Angst, dass wir Läuse ins Internat bringen“, erinnert sich Allen. „In der Nacht hörte man die Kinder weinen und nach ihren Müttern rufen.“Die Internatsschüler durften einzig Englisch oder Französisch sprechen. „Sie wollten den Indianer in uns austreiben“, sagt Allen. Die Internate wurden größtenteils von katholischen und protestantischen Kirchen betrieben und von der kanadischen Regierung verwaltet. Die letzte Schule wurde erst 1997 geschlossen.
Allen fährt mit seinem Geländewagen weiter entlang des Ufers des Kluane-Sees durch eine Landschaft, deren Farbenpracht jetzt im Herbst die Sinne betört. Die Gelb-, Orange- und Rottöne der Balsamund Zitterpappeln vor dem Anthrazitblau des Sees und den ersten schneebedeckten Gipfeln blenden die Augen. „Vor Kurzem habe ich hier noch mehrere Bisons gesehen“, sagt er beim Überqueren einer Lichtung auf einem Hügel. Die Wildrinder waren hier einst von weißen Jägern ausgerottet und Ende der 80er-Jahre wieder angesiedelt worden. Vor allem auf dem Land der Champagne und Aishihik First Nations, denen Allen angehört, leben inzwischen wieder Hunderte. „Dass sie hier nun wieder leben, zeigt, dass es immer Hoffnung für einen Neuanfang gibt.“
Ausgangspunkt einer Katastrophe Für die Geschichte der Tutchonen, zu denen auch Allens Stamm gehört, wurde der Bau des Alaska Highways 1942 zu einem Wendepunkt. Die als kriegswichtig eingestufte Straße brachte nicht nur einen schnelleren Zugang zur Welt jenseits der ewig schneebedeckten Berge hinter dem Kluane Lake, sie brachte auch Krankheiten wie Tuberkulose. Viele, darunter auch einer von Allens Brüdern, kostete sie das Leben. Infolge der Landerschließung wurden die nomadisch lebenden Stämme zwangsumgesiedelt und ihre Kinder
in eigens für sie eingerichtete Internate gesteckt.
„Durch die Wut und die Hilflosigkeit begannen viele Eltern zu trinken“, sagt Allen. „Wir waren einmal Selbstversorger. So aber begann der Zusammenbruch. Mein Vater, der einmal ein freier Jäger war und jetzt ohne seine Kinder in Haines Junction leben musste, sah keinen Sinn mehr im Leben.“Das Südliche Tutchone oder Dän k'è, Allens Muttersprache, wird heute von nur noch um die 150 Menschen aktiv gesprochen.
Doch die Tutchonen haben wie viele andere First Nations begonnen, sich dem unheilvollen Erbe der Enteignung und der Residential Schools zu widersetzen. 1993 waren die Champagne und Aishihik First Nations unter den Ersten, die mit dem Territorium Yukon einen Landrechtsvertrag abschlossen. Ihnen untersteht seither ein Gebiet von etwa 2 500 Quadratkilometern im Umfeld des Kluane-Nationalparks, den sie auch mit verwalten und wo sie eigenständige Jagdrechte haben.
„Hier oben halten wir nun Seminare über unsere Kultur.“Von den Blockhütten seines Shakat Tun Wilderness Camps hat man von einer Anhöhe eine atemberaubende Aussicht über den Kluane Lake. „Wir haben hier immer wieder auch Bären zu Gast, aber hatten nie Probleme“, sagt Allen. „Wir respektieren sie und sie respektieren uns.“
Welt der indigenen Vorfahren
In seinem Camp lernen indigene Kinder und Jugendliche, mit der Welt ihrer Vorfahren neu Kontakt aufzunehmen, üben ihre fast verlorene Sprache und hören Geschichten der Ältesten. Auch Touristen sind willkommen. Manchmal führt ein Schamane in einer aus Ästen und Erde gezimmerten Jurte Reinigungsrituale durch. In der Freizeit geht Allen mit Alkoholund Drogenabhängigen jagen und zeigt ihnen, Fallen zu stellen. „Wieder mit der Natur in Einklang zu leben, ist für sie die beste Therapie.“
Allen ist kein weltfremder Wildnis-Romantiker. Als langjähriger Vorsitzender seines Stammes und Kanzler der Yukon University hat er an Konferenzen für Indigene in verschiedenen Ländern teilgenommen und traf Menschen aus aller Welt. Mit dem Glauben an eine Zukunft der indigenen Völker ist er nicht allein. Trotz ihrer oftmals traumatischen Vergangenheit blicken viele First Nations auch hoffnungsvoll in die Zukunft.
Die First Nations haben in den letzten Jahren begonnen, die Repräsentation ihrer Kulturen in die eigene Hand zu nehmen. Sie eröffnen
Historiker gehen inzwischen von bis zu 6 000 indigenen Kindern aus, die durch Krankheiten, Unterernährung und Missbrauch in katholischen Umerziehungsinternaten ihr Leben ließen. An einer kleinen Gedenkstätte vor dem Ontario Legislative Building in Toronto erinnern Kinderschuhe an ihr tragisches Schicksal. Kunstgalerien und Gedenkstätten an den ehemaligen Residential Schools, gestalten Kulturzentren und verstärkt auch das allgemeine Bildungssystem. Auch im Naturtourismus, insbesondere bei Grizzly- und Walbeobachtungen, spielen Anbieter mit First NationHintergrund eine immer wichtigere Rolle. Allein in British Columbia werden inzwischen über 2 000 Unternehmen von Indigenen geführt. Ihre Zahl ist dort seit 2011 um mehr als 20 Prozent gewachsen.
In Klukshu etwa, eineinhalb Autostunden weiter südlich vom Camp ihres Großvaters am Kluane Lake, beobachtet Sancheä Madison Allen die Lachse, die jetzt im Herbst zum Laichen in dem schmalen Gebirgsbach neben dem Dorf mit den verstreuten Blockhütten eintreffen. Einst war es das Sommerquartier der Champagne und Aishihik First Nations. Die Enkelin kommt jedes Jahr im September zum Fischen hierher und bringt in diesem Jahr auch ihren vierjährigen Sohn mit. „Als ich klein war, leuchtete der Bach um diese Zeit noch von den vielen Rotlachsen“, erzählt sie, „wohl wegen der Überfischung in Alaska und dem Klimawandel sind es heute immer weniger.“
Wiedergeburt indigener Sprachen Ihr Großvater hat sie das Fischen gelehrt. Sie begleitet ihn auch zum Fallenstellen in den Wald und nimmt ihren Sohn mit. Die Luchs-, Vielfraß- und Kojotenfelle verarbeitet ihre Großmutter zu Kleidung und Schuhen. Heute nutzt die Familie alles, was sie jagt und fischt, allein für den Eigenbedarf, so wie es ihre Vorfahren einst taten. „Wir glauben daran, dass die kommenden Generationen den durch die Residential Schools entstandenen Teufelskreis aus Kulturverlust und Alkohol durchbrechen werden“, sagt Allen. „Seit wir die Landrechtsverträge haben, sind wir wieder ziemlich mächtig geworden. Das erleben gerade auch andere First Nations.“
Auch ihre Sprache erlebt eine Wiedergeburt. Während ihre Eltern die Muttersprache des Großvaters gar nicht mehr sprechen, hat die 26-Jährige sie in Kursen gelernt und wirkt in einer Musik- und Tanzgruppe mit, die auch Lieder in Dän k'è aufführt. „Manche schreiben sich jetzt auch Textnachrichten in ihren Sprachen“, sagt sie. „Ich bin sicher, mit der nächsten Generation werden die indigenen Sprachen noch lebendiger werden. Mein Sohn lernt Dän k'è schon in der Kita. Er spricht es schon jetzt besser als ich.“
Der 30. September steht in Kanada wie kein anderer Tag für die leidvolle Vergangenheit, aber auch für das neue Selbstbewusstsein der First Nations.
werden müssen. Die Sonnenenergie wird also direkt ins eigene Hausnetz eingespeist. Und da sich Strom immer den kürzesten Weg sucht, wird auch immer zuerst der selbst erzeugte Strom verbraucht.
Zehn Prozent des Stromverbrauchs abdecken