Dreißig Grad neben der Gefahr
Leitender Ermittler im Fall des tödlichen Polizeieinsatzes in Bonneweg zweifelt an Notwehr
Luxemburg. Am Ende seiner Fallsynthese ziehe er keine Schlussfolgerung, meint der leitende Ermittler gestern im Prozess um den tödlichen Schuss eines Polizisten bei einem Einsatz im April 2018 in Bonneweg. Er stelle aber zwei Fragen.
Die Erste wird nie beantwortet werden können: Was war die Absicht des 51-jährigen Getöteten? Fakt ist, dass der Mercedesfahrer, mit 1,8 Promille Alkohol sowie Drogen und Medikamenten im Blut, nach der Flucht vor einer Polizeikontrolle seinen Wagen zunächst direkt auf den Beamten zu beschleunigte. Die Zweite: Was wollte M. erreichen, als er auf den Wagen schoss? Denn in der Ausbildung lernen Polizisten, nicht auf Autos zu schießen. Denn keine Kugel stoppt den Wagen und beendet eine unmittelbare Gefahr.
Im Prozess zieht der Ermittler im Gegensatz zu seinem Bericht dann doch Schlussfolgerungen. M. habe sich beim Schießen offensichtlich gedreht. Um 30 Grad beim ersten Schuss, um 90 beim Zweiten und um 180 beim Dritten. Der 30-Grad-Winkel beim Todesschuss
bezeuge aber, dass M. sich zu diesem präzisen Augenblick nicht mehr direkt vor dem Wagen, also nicht mehr in absoluter Lebensgefahr befunden habe. M.s Verteidiger lässt das nicht gelten: ein Zeitrahmen von 1,92 Sekunden und eine Reaktionszeit von mindestens 0,5 Sekunden, bevor der Mercedes 0,7 Sekunden später Polizist und Streifenwagen hätte erfassen können, seien ein äußerst knapper Zeitrahmen. Für den Ermittler hingegen sind zwei Sekunden
beim Schießen eine lange Zeit.
Grund für weiterführende Ermittlungen sei ohnehin nicht nur der Tatablauf selbst gewesen, sondern auch M.s Verhalten vor und nach den Schüssen. Er sei ein Law&Order-Polizist gewesen, stets unverfroren auf Konfrontation und Aktion aus. Und sein Umgang mit der Waffe bedenklich. „Wéi e Kand, wat op der Fouer eng Schéiss gefëscht huet, huet e stänneg mat senger Waff gespillt“, zitiert er einen Kollegen von M. – einen von mehreren, denen dessen scheinbar ständige Spielerei und Rumgefuchtel mit der Dienstwaffe ein Dorn im Auge war.
Bereits nach dem dritten Verhandlungstag zeichnet sich ab: Ganz gleich, was über den Charakter und das offenkundig dumme Gehabe und Geschwätz des Angeklagten gesagt wird, es bleibt einzig die Frage nach der Notwehr in einer präzisen Situation. Dabei scheint es schwierig, daran zu zweifeln, dass der Polizist sich in Gefahr wähnte, als er seine Waffe auf einen Fahrer richtete, der sein Auto direkt auf ihn zusteuerte. Aber: War die Gefahr in dem Sekundenbruchteil, in dem er entschied, zu schießen, immer noch real? War die Schussabgabe tatsächlich zwingend notwendig oder hätte M. sich auch ohne den Schuss aus der Gefahr bringen können? Und: Ließ ihm die Schnelligkeit der Ereignisse überhaupt Zeit, sein Handeln infrage zu stellen?