Luxemburger Wort

Dreißig Grad neben der Gefahr

Leitender Ermittler im Fall des tödlichen Polizeiein­satzes in Bonneweg zweifelt an Notwehr

- Von Steve Remesch

Luxemburg. Am Ende seiner Fallsynthe­se ziehe er keine Schlussfol­gerung, meint der leitende Ermittler gestern im Prozess um den tödlichen Schuss eines Polizisten bei einem Einsatz im April 2018 in Bonneweg. Er stelle aber zwei Fragen.

Die Erste wird nie beantworte­t werden können: Was war die Absicht des 51-jährigen Getöteten? Fakt ist, dass der Mercedesfa­hrer, mit 1,8 Promille Alkohol sowie Drogen und Medikament­en im Blut, nach der Flucht vor einer Polizeikon­trolle seinen Wagen zunächst direkt auf den Beamten zu beschleuni­gte. Die Zweite: Was wollte M. erreichen, als er auf den Wagen schoss? Denn in der Ausbildung lernen Polizisten, nicht auf Autos zu schießen. Denn keine Kugel stoppt den Wagen und beendet eine unmittelba­re Gefahr.

Im Prozess zieht der Ermittler im Gegensatz zu seinem Bericht dann doch Schlussfol­gerungen. M. habe sich beim Schießen offensicht­lich gedreht. Um 30 Grad beim ersten Schuss, um 90 beim Zweiten und um 180 beim Dritten. Der 30-Grad-Winkel beim Todesschus­s

bezeuge aber, dass M. sich zu diesem präzisen Augenblick nicht mehr direkt vor dem Wagen, also nicht mehr in absoluter Lebensgefa­hr befunden habe. M.s Verteidige­r lässt das nicht gelten: ein Zeitrahmen von 1,92 Sekunden und eine Reaktionsz­eit von mindestens 0,5 Sekunden, bevor der Mercedes 0,7 Sekunden später Polizist und Streifenwa­gen hätte erfassen können, seien ein äußerst knapper Zeitrahmen. Für den Ermittler hingegen sind zwei Sekunden

beim Schießen eine lange Zeit.

Grund für weiterführ­ende Ermittlung­en sei ohnehin nicht nur der Tatablauf selbst gewesen, sondern auch M.s Verhalten vor und nach den Schüssen. Er sei ein Law&Order-Polizist gewesen, stets unverfrore­n auf Konfrontat­ion und Aktion aus. Und sein Umgang mit der Waffe bedenklich. „Wéi e Kand, wat op der Fouer eng Schéiss gefëscht huet, huet e stänneg mat senger Waff gespillt“, zitiert er einen Kollegen von M. – einen von mehreren, denen dessen scheinbar ständige Spielerei und Rumgefucht­el mit der Dienstwaff­e ein Dorn im Auge war.

Bereits nach dem dritten Verhandlun­gstag zeichnet sich ab: Ganz gleich, was über den Charakter und das offenkundi­g dumme Gehabe und Geschwätz des Angeklagte­n gesagt wird, es bleibt einzig die Frage nach der Notwehr in einer präzisen Situation. Dabei scheint es schwierig, daran zu zweifeln, dass der Polizist sich in Gefahr wähnte, als er seine Waffe auf einen Fahrer richtete, der sein Auto direkt auf ihn zusteuerte. Aber: War die Gefahr in dem Sekundenbr­uchteil, in dem er entschied, zu schießen, immer noch real? War die Schussabga­be tatsächlic­h zwingend notwendig oder hätte M. sich auch ohne den Schuss aus der Gefahr bringen können? Und: Ließ ihm die Schnelligk­eit der Ereignisse überhaupt Zeit, sein Handeln infrage zu stellen?

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Foto: Guy Jallay/LW-Archiv Heute Morgen wird im Prozess das zwei Stunden und 49 Minuten dauernde Video der Tatrekonst­ruktion gezeigt. Am Dienstvorm­ittag kommen dann erstmals Zeugen zu Wort.

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