Voll in die Nesseln
Sieht so die Brandmauer gegen rechts aus, von der Friedrich Merz im Dezember 2021 sprach? Nach den Aussagen des konservativen deutschen Politikers von dieser Woche darf man diese hehren
Worte stark bezweifeln. Der Ort war wohl nicht zufällig gewählt. Im dauererregten TV-Kanal der „Bild“-Zeitung unterstellte der CDU-Chef, ukrainische Flüchtlinge betrieben „Sozialtourismus“. Eine „größere Zahl“dieser Flüchtlinge mache sich „das System zunutze“, um Sozialleistungen zu kassieren. Belege für seine Unterstellungen blieb Merz schuldig. Behörden im Nachbarland erklärten, von solchen Vorgängen keinerlei Kenntnisse zu haben. Ist Merz etwa auf russische Propaganda hereingefallen? Nur so herausgerutscht dürften ihm die Worte im „Bild“Talk jedenfalls nicht sein. Merz wiederholte seine tendenziösen Aussagen sogar noch via Twitter – und setzte sich damit endgültig in die Nesseln. Später löschte er den Beitrag und schob stattdessen eine halbherzige Entschuldigung nach. Damit griff der 66-Jährige auf ein altbewährtes Rezept von Rechtspopulisten zurück: Zuerst provozieren, dann beleidigt zurückrudern. War ja alles nicht so gemeint.
Durch seinen Flirt mit dem rechten Rand erweist Merz seiner Partei vor der wichtigen Landtagswahl in Niedersachsen einen Bärendienst. Die große Überschrift #StandWithUkraine auf der CDU-Homepage wirkt angesichts der Aussagen des Parteivorsitzenden wie ein
Hohn. Mit der viel beschworenen Solidarität der Christdemokraten gegenüber der Ukraine ist es offenbar nicht weit her. Wer sich als ernsthafte Alternative bei den Wählern – oder im Falle Merz’ als Kanzlerkandidat – empfehlen will, darf nicht auf billigen Populismus vom Schlage Donald Trumps setzen. Merz‘ Ausritt bei „Bild“war ein peinlicher Rückfall in alte migrationsfeindliche Reflexe – und eine Beleidigung seines eigenen Intellekts.
Es ist nicht das erste Mal, dass der 66-Jährige am rechten Rand fischen geht. Der frühere Lobbyist und Wirtschaftsanwalt ließ in der Vergangenheit immer wieder starke Sprüche vom Stapel, um Punkte am Stammtisch zu sammeln und seine Intimfeindin Angela Merkel unter Druck zu setzen. Wie Merz unterliegen auch andere europäische Konservative immer wieder rechtspopulistischen bis rechtsextremen Verlockungen, um der zunehmenden Erosion ihrer Stammwählerschaft entgegenzuwirken. Beim gefallenen österreichischen konservativen Posterboy Sebastian Kurz sah man, wo der Versuch einer „Orbanisierung“enden kann.
Man kann nur spekulieren, warum Merz ausgerechnet jetzt mit dem Begriff „Sozialtourismus“das Unwort des Jahres 2013 aus der Mottenkiste holt. Seit seinem Amtsantritt Ende Januar läuft es eigentlich recht gut für den Oppositionsführer: Seine Partei feierte zwei wichtige Wahlerfolge in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Bei der Landtagswahl in Niedersachsen kommende Woche hat die CDU ebenfalls Chancen auf Platz eins.
Die Dreier-Koalition unter Führung von Kanzler Olaf Scholz (SPD) bietet der Oppositionspartei zudem genügend Angriffsfläche: Die verkorkste Gasumlage, der Streit um den Atomausstieg, Robert Habecks Talkshow-Patzer, des Kanzlers Zögerlichkeit bei der Ukraine-Hilfe. Auf diesem politischen Kampfgebiet sollte Merz die Ampel stellen – und nicht mit AfD-typischen Slogans politisches Kleingeld wechseln.
Der CDU-Chef fischt mit billiger Polemik nach Stimmen.
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