Böse verwählt
Das Berliner Verfassungsgericht bescheinigt der deutschen Hauptstadt demokratisches Totalversagen
Hingeschludert. Könnte Ludgera Seltin sagen. Oder: Arm – aber desinteressiert. Tut sie aber nicht. Kühl und ungerührt, wie es sich für die Präsidentin eines Verfassungsgerichtshofs gehört, befindet Seltin: „Die Integrität des Wahlergebnisses ist durch schwere Wahlfehler beschädigt.“Und nennt das die „vorläufige Rechtsauffassung“der obersten juristischen Instanz des Bundeslandes Berlin in Sachen Verfassung – und auch Wahlprüfung.
In diesem Moment – die Anhörung diverser Beschwerdeführer gegen das, was seit fast taggenau einem Jahr als „Berliner Wahlchaos“weltbekannt ist, beginnt gerade erst – ist klar: Wenn nicht noch ein Wunder geschieht – wird das Gericht die 2021er-Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen für ungültig erklären.
Historisch einmaliger Vorgang
Das – gab es in den 73 Jahren der Republik noch nicht. Allerdings gab es auch noch kein Bundesland, das sich zutraute, an einem Tag eine Bundes- und eine Landtagswahl, die Wahl der zwölf Bezirksparlamente, einen Volksentscheid und, ganz nebenbei, auch noch den viertgrößten Marathon der Welt zu stemmen. Das Desaster war absehbar. Sagt das Gericht. Nur nicht für die Verantwortlichen in Berlin. Sagen die.
Schon gegen Mittag fehlten am 26. September 2021 in vielen Wahllokalen die passenden Wahlzettel; entweder, weil die falschen geliefert worden waren – oder nicht genug. Aber: Marathon! Bedeutete gut 42 Kilometer Straßen gesperrt, von morgens um acht bis nachmittags nach fünf. Die Nachlieferung also war kompliziert. Und zäh. Vor den Lokalen bildeten sich Schlangen, am Ende – errechnete das Gericht – wurde zusammengenommen 59 Stunden ausgeharrt, und 83 Stunden lang waren Lokale einfach zu. Dafür 1 066 noch nach dem offiziellen Wahlschluss um 18 Uhr geöffnet, zum Teil bis 21 Uhr – 350 Stunden insgesamt. Schon da war klar: Mit dem Grundsatz der freien und gleichen Wahl war es an diesem Tag nichts in Berlin. Tausende setzten ihre Kreuzchen, als erst die Prognose und dann die Hochrechnungen längst öffentlich waren. Weniger schlimm fanden das die Verantwortlichen – vorneweg der noch Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) und der Innensenator Andreas Geisel (ebenfalls SPD).
Müller war auf dem Absprung in den Bundestag – in den er an diesem Tag direkt gewählt wurde; ob er bleiben wird, allerdings, ist nicht garantiert. Denn auch der Ablauf der Bundestagswahl wird überprüft; der Bundeswahlleiter hat Einspruch gegen den Ablauf in sechs Wahlkreisen eingelegt – Müllers ist einer davon.
Geisel, im neuen rot-grün-roten Senat zuständig für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen, auf den nun die Rücktrittsforderungen einprasseln, hält sich für unzuständig – denn: Er habe allein die Rechts-, nicht aber die Fachaufsicht gehabt. Und dann: „Was“, fragt er nach der Anhörung, „würde es besser machen, wenn ich zurücktrete?“Die Konkurrenz verfällt in Schnappatmung. Wahlweise tobt sie. „Rot-Grün-Rot hat unsere
Stadt vor der ganzen Welt blamiert“, ätzt CDU-Generalsekretär Stefan Evers. „Ein mieseres Zeugnis“, giften die auch 2021 schon mitregierenden Grünen, „kann ein Gericht den für die Wahl Verantwortlichen nicht ausstellen“.
„Berlin eben“
Die Berlinerinnen und Berliner – allerspätestens seit dem BER-Debakel an die ignorante Selbstherrlichkeit ihres Politpersonals gewöhnt – aber wundern sich nicht. „Berlin eben“ist der beliebteste Kommentar. Fast schon poetisch zürnt einer, nirgendwo sonst werde „Vernachlässigung so lässig toleriert“.
Die Verfassungsrichter jedoch tolerieren nicht. Schon die Wahlvorbereitung habe „den rechtlichen Anforderungen voraussichtlich nicht genügt“, befindet Seltin. Und auch wenn der Gerichtshof drei Monate Zeit hat bis zur Urteilsverkündung: In Berlin stellen sich Bürgerschaft wie Politik schon mal auf die Wahlwiederholung ein.
Die Tagespolitik beeinträchtigt diese Aussicht nicht: Alles, was der Senat ins Werk gesetzt hat und noch wird – bleibt gültig. Die Senatsmitglieder allerdings, vorneweg die ja noch nicht ein Jahr amtierende Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD), dürfen, Stand jetzt, eine Wahlwiederholung fürchten.
Nach der jüngsten Umfrage von Infratest dimap liegen die mitregierenden Grünen mit 22 Prozent vor der oppositionellen CDU mit 21, die bürgermeisterliche SPD ist mit 17 nur noch drittstärkste Partei. Das – und der Verriss durch das hohe Gericht – hat Giffey & Co. die Sprache verschlagen. Bislang verspricht sie allein, „dass das nicht noch mal passiert“. Und lässt Geisel im Amt. Als wäre der richterliche Verriss ein Witz.
Rot-Grün-Rot hat unsere Stadt vor der ganzen Welt blamiert. CDU-Generalsekretär Stefan Evers