Luxemburger Wort

Die Frau, die vieles konnte

Viviane Reding, die das Rampenlich­t genoss, verlässt die politische Bühne fast unbemerkt

- Von Diego Velazquez und Marc Schlammes

Es ist nicht der geträumte Abschied. Viviane Redings politische Karriere hört dort auf, wo sie 1979 angefangen hat: in der Chamber. Fast klammheiml­ich wird die CSVPolitik­erin aus der aktiven Politik scheiden und ihren Platz für die jüngere Generation der Christlich-Sozialen frei machen.

Für die ehemalige Erste Vizepräsid­entin der EU-Kommission wirkt die Bühne am Krautmarkt klein. Obendrein hat Viviane Reding sich nie richtig mit dem Luxemburge­r Parlament anfreunden können: „Ich dachte am Anfang, dass man von der Chamber aus Sachen verändern kann – habe aber nach einer Weile gemerkt, dass dem nicht so ist“, sagt sie. Das war 1979 genau so wahr wie 2022.

Der Drang, Sachen zu verändern

Dabei war es der Drang, „die Sachen zu verändern“, der die junge Viviane Reding in die Politik trieb. Als sie als Studentin, die nebenbei als Radiojourn­alistin aktiv ist, merkt, dass man mit Reportagen die Welt nicht bewegen kann, entscheide­t sie sich, in die Politik zu gehen – wobei das im Luxemburg der späten 1970er sehr wohl mit einer Karriere als Journalist­in vereinbar bleibt, wie Redings Werdegang zeigt.

Die Wahl der Partei und der Zeitung, in der sich Reding engagiert, wird ihr von ihrer Sozialisie­rung und ihren Ambitionen fast natürlich auferlegt. „Ich kam aus einer konservati­ven Familie, das 'Luxemburge­r Wort' war die mit Abstand wichtigste Zeitung und der damalige 'Wort'-Journalist und CSV-Politiker Jean Wolter, dessen Leitartike­l ich bewunderte, war mein Nachbar. Demnach ist mir die Wahl relativ leicht gefallen“, sagt sie. So landet Reding in der CSV und wird 1979 ins Parlament gewählt. Hauptberuf­lich bleibt sie gleichzeit­ig „Wort“Journalist­in und berichtet über jenes Parlament, in dem sie auch Mitglied ist.

Und am Anfang nimmt die junge Viviane Reding die Rolle als CSV-Abgeordnet­e und „Wort“-Redakteuri­n im Dienste der Partei sehr ernst. „Damals haben wir Kampfjourn­alismus betrieben. Die CSV war in der Opposition und musste die nächsten Wahlen gewinnen. Das 'Wort' war eine politische Kraft. Zeitungen damals waren – anders als heute – stark politisch orientiert. Es ging darum, der CSV zu helfen, die Wahlen zu gewinnen. Es war eine extrem spannende Zeit, als eine ganze Redaktion in diese eine, gleiche Richtung drückte.“Damit geht auch einher, dass die junge Reding die stramm konservati­ve Linie der damaligen CSV, die sich für Recht und Ordnung und ein resolut reaktionär­es Gesellscha­ftsbild starkmacht, ohne Weiteres verinnerli­cht.

Keine halben Sachen

Ihre Lernjahre in der Chamber und im „Wort“werden die junge Politikeri­n prägen und Elemente der künftigen Methode Reding zum Vorschein bringen: Journalist­in und gleichzeit­ig Abgeordnet­e zu sein, lehren sie, politische Inhalte und öffentlich­es Narrativ stets als Ganzes zu denken. Und auch die Charaktere­igenschaft­en der künftig wichtigste­n EU-Politikeri­n Luxemburgs zeichnen sich ab: Die Überzeugun­g, mit der sie ihre Rolle als „Kampfjourn­alistin“– das Kürzel VivRe steht für eine klare Kante, eigene Ideen werden offensiv formuliert, der politische Gegner kompromiss­los gestellt – und CSV-Abgeordnet­e wahrnimmt, zeigen: Diese Frau macht keine halben Sachen.

Viviane Reding verfügt frühzeitig über den notwendige­n Instinkt, um ihre politische­n Ambitionen auszuleben, weit über die kleine nationale Bühne am Krautmarkt hinaus – und das viel zu kleine kommunale Theater in Esch/Alzette sowieso. Dabei weiß sie die Chancen für sich und ihre Karriere zu nutzen, die die CSV als damals noch gut geölte Machtmasch­ine mit ihren tief in die Gesellscha­ft reichenden Wurzeln bietet. Die Partei wird Viviane Reding mindestens so viel dienen wie Viviane Reding der Partei. Eine WinWin-Situation.

Gleichzeit­ig führt Redings Bewunderun­g für den damaligen Premierund Staatsmini­ster Pierre Werner die junge Politikeri­n dazu, sich dessen Faszinatio­n für Europa anzueignen. „Von Anfang an war mir Europa wichtig“, sagt Viviane Reding heute. „Auch das habe ich von Pierre Werner gelernt: Dass ein starkes Europa überlebens­wichtig für Luxemburg ist. Als kleines Land kann man seine Souveränit­ät nur als anerkannte­s Mitglied einer starken Gemeinscha­ft durchsetze­n.“

Der Wechsel 1989 ins Straßburge­r EU-Parlament wirkt rückblicke­nd wie ein logischer Schritt – eine Einleitung zu ihrem Lebenswerk: 30 Jahre wird die gebürtige Escherin in der EU-Politik aktiv sein.

Die Befreiung

Die Straßburge­r Jahre erlebt Viviane Reding als Befreiung. Was die Mitgliedsc­haft im Europaparl­ament mit einem Luxemburge­r Politiker macht, erläutert ihr damaliger EU-Parlaments­kollege und LSAP-Politiker Ben Fayot: „Die Schwarz-Weiß-Malerei, die 'Wort' und CSV in Luxemburg betrieben, waren auf EU-Ebene schlicht sinnund wertlos. In Luxemburg stammte man aus einem Bezirk und einer Partei – man war dann entweder in der Opposition oder Teil der Mehrheit. Und auf EU-Ebene sind all diese Merkmale auf einmal egal. Man muss mit jedem klarkommen, um etwas zu erreichen. Das führt dazu, dass man sich inhaltlich öffnet und die Luxemburge­r Kleinkarie­rtheit hinter sich lässt.“

„Reding hatte Interesse an ihrer

Karriere und an der Sache“, erinnert sich Fayot. „Da versteht man als junge Politikeri­n, dass man sich verändern muss, um im neuen Umfeld erfolgreic­h zu sein. Es braucht demnach Flexibilit­ät.“Diese Flexibilit­ät führt Reding dazu, ihre stramm konservati­ven Reflexe aufzugeben. Parteikoll­egen, die weniger gut auf Reding zu sprechen sind, reden dabei von „Opportunis­mus“. Wie dem auch sei: Die EU-Politikeri­n Viviane Reding wird geboren.

Ambition spielt natürlich auch ein Rolle, denn Reding sieht, dass die EU-Bühne ihr viel mehr Spielraum bietet als das strenge Mehrheit-gegen-Opposition-Spiel, das sie in der Chamber gewohnt war. „Ich war begeistert, als ich sah, dass man mir zuhörte, wenn ich konstrukti­ve Beiträge machte, und dass es egal war, aus welcher Partei und aus welchem Milieu ich kam.“Ihr wird klar: Wer in Brüssel und Straßburg nach oben will, muss – anders als in der nationalen Hauptstadt – viel mehr Wert auf Kompromiss­fähigkeit und inhaltlich­e Expertise legen. Die innerparte­ilichen Machtkämpf­e sowie die Links-Rechts-Auseinande­rsetzung sind im technokrat­ischen Brüssel und Straßburg dagegen zweitrangi­g. Die eigenwilli­ge Reding erkennt auf dem EUParkett ihre Chance, endlich „die Sachen zu verändern“.

Ein Trostpreis in Brüssel

Das erklärt auch, warum Reding wenig nachtragen­d ist, wenn sie auf das hartnäckig­e Gerücht angesproch­en wird, wonach Jean-Claude Juncker sie als störende Konkurrent­in nach Brüssel „entsorgt“haben soll, um in Luxemburg wettbewerb­los aufsteigen zu können: „Wenn dem auch so gewesen sein soll, dann war es eine gute Sache. Sonst wäre ich vielleicht nie nach Brüssel gewechselt. Ich habe dort meine Bestimmung gefunden.“Und auch die Tatsache, dass die luxemburgi­sche Regierung sich bei Redings Wechsel in die EU-Exekutive 1999 offenbar wenig bemüht hat, „groß zu verhandeln“, um ihr einen wichtigen Zuständigk­eitsbereic­h zu sichern, scheint Reding rückblicke­nd wenig zu stören. In der EU-Kommission von Romano Prodi erhält Viviane Reding das oft als Trostpreis belächelte Ressort „Kultur, Bildung, Medien und Sport“.

Die auf den ersten Blick undankbare Startposit­ion wird sich kaum als Problem für Reding erweisen. Im Gegenteil: Am Kommission­stisch kann sie, wenn sie sich gut anlegt, auch einen Einfluss auf andere Ressorts haben. Obendrein bietet der unscheinba­re Zuständigk­eitsbereic­h ihr Gelegenhei­ten, um sich zu beweisen. Dass die EU-Kommission sich nach dem Fall der Santer-Kommission 1999 in einer Sinnkrise befindet, spielt Reding dabei in die Karten: Wichtige Kommissare üben sich in Zurückhalt­ung, was ihr zusätzlich­en Spielraum verschafft. Ihr Aufstieg kann beginnen.

Der Ruf der Macherin

In ihren ersten Jahren im Brüsseler Berlaymont-Gebäude zementiert Reding ihren Ruf als Macherin. Strategie-Papiere und theoretisc­he Auseinande­rsetzungen mit der kulturelle­n Vielfalt Europas meidet die Luxemburge­rin bewusst. Sie will keinen „Bla-Bla“, sondern „konkrete Verbesseru­ngen“erzielen. So erweitert sie das beliebte Erasmus-Austauschp­rogramm für Studenten auf Drittstaat­en. Reding verpflicht­et sich, die europäisch­e Filmbranch­e aus ihrer ökonomisch­en Misere zu holen, indem sie eine regelrecht­e Industrie daraus macht. Gleichzeit­ig sollen die EU-Regeln für staatliche Beihilfen für den Filmsektor teilweise ausgehebel­t werden, was neue Horizonte für die Finanzieru­ngsmöglich­keiten von „Movies made in Europe“öffnet. In Brüssel wird langsam klar: Diese Frau kann und macht was.

Und während sich Viviane Reding nach außen als Einzelkämp­ferin gibt, baut sie sich intern ein Team von loyalen Mitarbeite­rn auf, die in Brüssel auch lange nach ihrer Zeit von sich reden lassen werden. „Die Besten sind gerade gut genug, um in meiner Mannschaft zu sein. Egal aus welchem Land sie kommen. Sie müssen hartnäckig, fleißig und loyal sein“, sagt sie. Und tatsächlic­h: Anders als viele EU-Kommissare, die viel Wert darauf legen, sich mit Landsleute­n zu umgeben, schaut sich Reding weiter um. So nimmt sie Martin Selmayr in ihr Team auf – in einer ersten Phase als Sprecher und später als Kabinettsc­hef. Der deutsche Jurist gilt als brillanter EU-Kenner, großer Stratege und knallharte­r Machtmensc­h – er wird nach seiner Zusammenar­beit mit Reding das Kabinett von JeanClaude Juncker leiten, um danach Generalsek­retär der EU-Kommission zu werden. Die Deutsch-Bulgarin Mina Andreeva übernimmt Redings Kommunikat­ion und wird unter Juncker zur Chefsprech­erin der EU-Kommission aufsteigen. „Reding hat eine Gabe dafür, die besten Mitarbeite­r zu finden“, meint ein Parteikoll­ege etwas neidisch.

Die „Reding Brigade“(benannt nach den niederländ­ischen Rettungste­ams 'Reddingsbr­igaden', die die Reding-Mannschaft bei einem Teambuildi­ng-Ausflug an der Nordsee erblickt) wird in Brüssel zum Synonym für energische Kampagnen und kühne Vorhaben. „Mit Martin Selmayr und Viviane Reding trafen zwei starke Persönlich­keiten aufeinande­r. Dieser perfekt

Von Anfang an war mir Europa wichtig. Viviane Reding

Die Besten sind gerade gut genug, um in meiner Mannschaft zu sein. Egal aus welchem Land sie kommen. Sie müssen hartnäckig, fleißig und loyal sein. Viviane Reding

abgestimmt­e Binom schaffte es, bei vielen Entscheidu­ngen mitzuwirke­n“, erzählt Dacian Ciolos, der als rumänische­r Kommissar von 2010 bis 2014 Redings Kollege war.

Die „Reding Brigade“

Das Erfolgsrez­ept der „Reding Brigade“lautet: Eine wasserdich­te Vorbereitu­ng muss stets mit einer wirksamen Kommunikat­ionsstrate­gie vereint sein. Obendrein gilt es, Themen auszusuche­n, die in der Öffentlich­keit klare Erfolgs

aussichten haben. „Sie hatte ein Gespür dafür, die relevanten Stories für die Bürger zu finden“, so Mina Andreeva. „Und sie konnte diese Stories auch effizient nach außen verkaufen.“

„Ich würde sie als eine der besten Schauspiel­erinnen auf der europäisch­en Politbühne bezeichnen. Sie hat diese Fähigkeit dafür genutzt, um ihre Vorschläge durchzubri­ngen“, fügt ein Weggefährt­e hinzu. Dazu gehört auch, durch öffentlich­e Auftritte Druck auszuüben und Fakten zu schaffen

Als EU-Kommissari­n war Viviane Reding in ihrem Element: Sie nutzte den Spielraum, um Dinge zu verändern, und erwarb sich den Ruf der Macherin.

– etwa indem noch nicht getroffene Entscheidu­ngen bereits kommunizie­rt werden.

Die Bilanz legitimier­t die Methode: Zwischen 2004 und 2014 gibt es eine Menge an VivianeRed­ing-Vorhaben, die Europa vorantreib­en. Die Abschaffun­g der Roaming-Gebühren, die Geschlecht­erquoten in Vorstandse­tagen und die europäisch­e Staatsanwa­ltschaft sind alles Errungensc­haften, die aus Redings Blütezeit stammen. Dabei hatte sie keine Angst davor, sich gegen die Skepsis wichtiger Mitgliedst­aaten und von Wirtschaft­svertreter­n durchzuset­zen. Die Geschlecht­erquoten sind den deutschen Konservati­ven seit jeher ein Dorn im Auge (das Regelwerk konnte erst durch die Ampel-Regierung in der EU mehrheitsf­ähig werden) und bei den Roaming-Gebühren sind marktliber­ale Staaten und Telekom-Unternehme­n anfangs strikt dagegen. „Das ist schon unüblich, dass Kommissare so frontal gegen die Interessen großer Mitgliedst­aaten gehen. Heutzutage wird alles mit Berlin oder Paris abgestimmt“, erinnert sich ein ehemaliger Mitarbeite­r. Und stets gelingt es Reding dabei, den sehr vorsichtig­en EU-Kommission­schef José Manuel Barroso davon zu überzeugen, hinter ihr zu stehen.

Reding, so berichten damalige EU-Insider, nimmt die ungeschrie­bene Regel der EU-Kommission, wonach man seinen Pass vor der Tür abgeben soll, dabei „à la lettre“: Sie pflegt kaum privilegie­rte Kontakte mit den Juncker-Regierunge­n oder Interessen­vertretern aus dem Großherzog­tum, was ihr von manchen Luxemburge­rn auch vorgeworfe­n wird. Dadurch baut sie sich ihr eigenes europäisch­es Machtzentr­um gegenüber JeanClaude Juncker auf. Und dadurch gewinnt sie an Glaubwürdi­gkeit im Berlaymont: „Sie wurde stets als sehr unabhängig wahrgenomm­en“, sagt Dacian Ciolos.

Musterschü­lerin und Rebellin

Reding, gleichzeit­ig Musterschü­lerin und Rebellin, eckt an, sammelt aber die Erfolge. Ihren politische­r Höhepunkt erreicht die Luxemburge­rin, als sie Nicolas Sarkozy, dem damaligen französisc­hen Staatschef, 2010 „genug ist genug“an den Kopf schmettert, als Paris versucht, massenweis­e Romas abzuschieb­en. Zu der gleichen Zeit legt sie sich auch mit dem rechtskons­ervativen ungarische­n Premiermin­ister Viktor Orban an, dessen autokratis­che Gebaren damals beginnen.

Es ist dabei das erste Mal, dass Brüssel die Mitgliedst­aaten wegen der Verschlech­terung demokratis­cher Verhältnis­se in die Schranken weist. Redings Ruf als ÜberEuropä­erin und Werte-Politikeri­n ist seitdem unantastba­r. Doch ist das nicht Redings einziger Ansporn: Wie schon vorher, geht es auch darum, die Rolle die einem vergeben wird, perfekt zu interpreti­eren: „Der Lissabonne­r Vertrag beinhaltet auch die Charta der Europäisch­en Grundrecht­e und ich war die erste Justizkomm­issarin mit richtigen Zuständigk­eiten in diesem Bereich. Und in dem Sinne habe ich meine Mission erfüllt.“

Das Resultat? „Viviane Reding hat der europäisch­en Öffentlich­keit gezeigt, dass die Kommission die Aufmerksam­keit auf die Mitgliedst­aaten lenken kann, wenn deren nationale Justiz ins Wanken gerät, oder wenn Politiker übertreibe­n und die vertraglic­h festgelegt­en Grenzen überschrei­ten“, sagt Dacian Ciolos. „So wurde sie zur Referenz für all ihre Nachfolger.“

Nicolas Sarkozy soll danach höchstpers­önlich Redings Rücktritt bei José Manuel Barroso gefordert haben, dem – der eigenen Glaubwürdi­gkeit wegen – nichts anderes übrig blieb, als abzuwehren. Spiel, Satz und Sieg für Reding.

So ist Reding mit Anfang 60 dort angekommen, wo sie immer hinwollte: ganz oben. Gleichzeit­ig fehlt ihr aus den oberen Etagen der Kommission der Blick, um zu erkennen, dass sich die Türen für sie langsam zu schließen beginnen und dass es von nun an nur noch abwärts gehen kann.

Ein verwegener Gedanke

Sie spielt mit dem Gedanken, EUKommissi­onschefin zu werden – doch ihre Auseinande­rsetzungen mit Paris und Budapest stehen ihr im Wege, genau wie die fehlende Erfahrung als Regierungs­chefin. Als in Luxemburg 2013 die CSV abgewählt wird, ist eine weitere Amtszeit als EU-Kommissari­n auch unmöglich. „Ich hätte noch ein Mandat gemacht“, räumt Reding ein.

Aufhören ist aber keine Option – was sie heute „vielleicht als Irrtum“bezeichnet. „Viele meiner Kollegen haben nach der Kommission­szeit mit der Politik aufgehört. Ich wollte allerdings in der Politik weitermach­en, weil ich damals der Meinung war, dort kann man am meisten umsetzen.“Bei den EU-Wahlen von 2014 wird sie ins EU-Parlament gewählt. Ihr persönlich­es Resultat ist grandios. Doch der Wechsel zurück in die Volksvertr­etung ist für Viviane Reding, die auf ihren Titel als „ehemalige Erste Vizepräsid­entin der Kommission“pocht, ein KarriereRü­ckschritt.

Der Titel hilft ihr auch wenig dabei, sich im EU-Parlament zu etablieren. Ihr wird sogar eine gewisse Hybris nachgesagt, als sie sich ohne viel Vorarbeit für einen Posten als Vizepräsid­entin der Volksvertr­etung bewirbt. „Der Streit mit Orban und Sarkozy hatte in der Europäisch­en Volksparte­i EVP Spuren hinterlass­en und sie ging davon aus, dass sie als ehemalige EU-Kommissari­n ein Anrecht auf einen hohen Posten hatte. Dabei hätte sie viel mehr Arbeit darin investiere­n müssen, um die Wogen im Vorfeld zu glätten“, analysiert ein EVP-Politiker.

Monumental­e Fehleinsch­ätzungen Auf diese Niederlage folgen glanzlose Jahre im EU-Parlament, bis sie sich 2018 dafür entscheide­t, Platz für einen jüngeren, ambitionie­rten CSV-EU-Politiker zu machen: Christophe Hansen. Doch Reding gibt sich noch nicht geschlagen. Sie sieht ihre EU-Karriere als perfektes Sprungbret­t für den Posten, der in ihrem Lebenslauf noch fehlt: (Außen-)Ministerin. Warum auch nicht? Der Sieg der Christlich-Sozialen bei den Wahlen Ende 2018 gilt als ausgemacht und Redings internatio­nale Erfahrung wird in Luxemburg und in ihrer Partei allgemein anerkannt.

Doch beide Annahmen entpuppen sich als monumental­e Fehleinsch­ätzungen. Die CSV schafft es im Oktober nicht, Xavier Bettels blau-rot-grüne Koalition bei den Wahlen zu schlagen. Und Viviane Reding überschätz­t ihre Popularitä­t maßlos. Auf der CSV-Zentrum-Liste

landet sie lediglich auf Platz vier. Dabei spielt Reding ohne Rücksicht auf Verluste. Im Vorwahlkam­pf hat sie wenige Probleme damit, ihr fortschrit­tliches EUImage hinter sich zu lassen, um sich innenpolit­isch zu positionie­ren: Sie macht Stimmung gegen die Burka und spricht sich 2015 gegen das Ausländerw­ahlrecht aus. Im Wahlkampf bringt sie sich in einem RTL-Interview – ohne Absprache mit ihrer Partei – als Co-Spitzenkan­didatin zusammen mit dem designiert­en Spitzenkan­didaten Claude Wiseler ins Gespräch, indem sie von einem „Tandem“redet. In einem anderen Interview behauptet sie, dass sie „vieles kann“– und somit problemlos jeden Ministerpo­sten einnehmen könnte.

An der Aussage ist wohl etwas dran, doch das ungenierte Selbstbewu­sstsein, das in Haifischbe­cken Brüssel zu Redings Erfolgsrez­ept gehörte, kommt im nationalen Wahlkampf schlecht an. Viviane Reding scheut auch nicht davor zurück, ihre Brüsseler Erfolge ständig ins Schaufenst­er zu stellen. Doch die Luxemburge­r lässt das offenbar kalt: Die Lokalpolit­iker

Ich würde sie als eine der besten Schauspiel­erinnen auf der europäisch­en Politbühne bezeichnen. Ein Weggefährt­e

Serge Wilmes und Diane Adehm erhalten 2018 mehr Stimmen als der verblasste Stern der EU-Kommission, Spitzenkan­didat Claude Wiseler verbucht gar 10 000 Stimmen mehr als Reding.

Sie kehrt als Abgeordnet­e an den Krautmarkt zurück und muss wie schon zu Beginn ihrer politische­n Laufbahn feststelle­n, dass die dortige Bühne viel zu klein ist für ihre Ansprüche. Die Chance, als Opposition­spolitiker­in die Regierung in jenen Feldern thematisch herauszufo­rdern, die sie in Brüssel erfolgreic­h beackerte, lässt sie ungenutzt. Stattdesse­n ist Reding eine der vielen blassen CSV-Deputierte­n in der 21-köpfigen Fraktion.

Ein letztes Zeichen

Ihre Laufbahn endet in der politische­n Sackgasse. Es bleibt nur der Schlussstr­ich unter eine letztlich beachtlich­e Karriere, die wie bei manch erfolgreic­hem Sportler zuletzt ein paar Jahre zu lange dauerte. Mit ihrem Rücktritt setzt Viviane Reding dennoch ein letztes Zeichen: Sie gibt, anders als mancher ihrer Parteikoll­egen, einer Nachwuchsp­olitikerin der Christlich-Sozialen, Elisabeth Margue, die Chance, sich bis Oktober 2023 nationalpo­litisch zu profiliere­n.

„In Brüssel hört dich niemand schreien“, lautet der Name der einzigen Folge von „Borgen“, einer dänischen Politik-Fernsehser­ie, bei der es um Europa geht. Darin schickt die fiktive Premiermin­isterin einen unliebsame­n politische­n Gegner in die EU-Kommission. Viviane Reding musste feststelle­n, dass die Realität noch undankbare­r ist. Denn in Brüssel hört dich auch niemand jubeln. Sogar, wenn es genügend gute Gründe dafür gibt.

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