Die arme Seite des reichen Landes
Als Kind hörte ich oft, wir würden im reichsten Land der Welt leben. Zahlreiche teure Wagen, große Häuser und tolle Infrastrukturen von Banken, Versicherungen und Unternehmensberaterfirmen suggerieren einem dieses Bild. Mit einem der höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt und einem Median-Einkommen von 3 671 Euro bestätigen nackte Zahlen diese Idee und kaum jemand verbindet Begriffe wie Armut und Arbeitslosigkeit mit dem Großherzogtum. Wahrlich geht es uns, im internationalen wie europäischen Vergleich, gut in Luxemburg.
Gerade deshalb bin ich der Meinung, dass wir hohe Ansprüche an unser Land erheben können, ja sollen, wenn es um Armutsbekämpfung und soziale Gerechtigkeit geht. Wenn es um die steigenden Zahlen an Obdachlosen geht. Wenn es um jene geht, die nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können, weil es ihnen schlichtweg am Geld fehlt. Seit Jahren alarmieren die Zahlen um das steigende Armutsrisiko, das mittlerweile 18,3 Prozent (2020) erreicht hat, sowie der Anteil von Kindern und Jugendlichen, die als armutsgefährdet gelten.
In den letzten Jahren wurden einige wichtige soziale Maßnahmen getroffen, um den Schwächsten unserer Gesellschaft zu helfen: Die „Allocation de vie chère“wurde substanziell erhöht, das Kindergeld indexiert, das „Crédit monoparental“eingeführt, Energieprämien wurden geschaffen und das Revis reformiert. Jede einzelne Maßnahme geht in die richtige Richtung und ist Teil eines Systems von einzelnen Schraubstellen. Was jedoch fehlt, ist eine ressortübergreifende Strategie zur Armutsbekämpfung, die gemessen werden kann, transparent und nachvollziehbar ist, und vor allem mit den Akteuren der Sozialhilfe gemeinsam ausgearbeitet und umgesetzt werden muss.
Diese Strategie soll vor allem ganzheitlich sein und mit dem Silodenken einzelner Ministerien brechen. Diese transversale Strategie
braucht ambitionierte, quantifizierte Ziele wie beispielsweise ein Ende der Obdachlosigkeit, einen direkten, niederschwelligen Zugang zu medizinischen und psychologischen Hilfeleistungen für jede*n und Direkttermine bei Sozialämtern,
sowie Instrumente, die präventiv wirken und nicht nur zur Symptombehandlung dienen.
Um diese Ziele umzusetzen, braucht es kohärente, interministerielle Maßnahmen, von denen ich hier nur einige aufzählen will: eine kohärente, multidisziplinäre Housing-First-Offensive, vermehrte niederschwellige Sozialarbeit in sämtlichen Regionen des Landes, dezentralisierte Anlaufstellen für Drogenabhängige, den Ausbau von Wiedereinstiegsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose, Prävention von Schulabbrüchen oder eine konjunkturelle Anpassung des Personalschlüssels für die 30 Sozialämter unseres Landes.
Kurzfristig, und besonders hinsichtlich der Energiekrise und der steigenden Inflation, schlägt der soziale Sektor zunehmend Alarm, da eine drohende Lawine an zukünftigen Bedürftigen antizipiert wird. Menschen, die in Bezug auf die sozioökonomische Lage weniger begünstigt sind, werden mit substanziellen Mehrkosten zu kämpfen haben und somit vermehrt auf Hilfestellung des Staates zurückgreifen.
Besonders in der heutigen Situation, wo der Staat bereits mehrere Hilfestellungen zur Verfügung stellt, muss auf Informationskampagnen, mehr Personal bei den Sozialämtern und zusätzliche Ressourcen bei den aktiven Hilfsorganisationen gesetzt werden. Denn allzu oft wissen die Menschen nicht, dass finanzielle Unterstützungen existieren, wo sie welche Hilfen anfragen müssen, wie die Formulare ausgefüllt werden oder an welche Behörden sie sich bei den verschiedensten Sorgen wenden sollen. Außerdem schämen sich viele Menschen überhaupt Hilfe beantragen zu müssen, und nehmen so erhebliche Abstriche in ihrer Lebensqualität in Kauf.
Hilfestellungen müssen einfach erreichbar, schnell und nah an den Bürger*innen verortet sein. Mit dieser Mission sind die Sozialämter betraut, und brauchen gerade in den kommenden Monaten zusätzliche Ressourcen und eine gezielte Koordination. Diese kurzfristigen Maßnahmen müssen jetzt in die Wege geleitet werden, denn bei den Ärmsten der Gesellschaft zu sparen, wäre eine katastrophale Entwicklung für unser reiches Land.
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Die Autorin ist Abgeordnete und Co-Präsidentin von Déi Gréng