Intensität auf vielen Ebenen
„To LIVE heißt Leben und LIEBE heißt Love“im Check
„Warum findet man auf Toiletten eigentlich eher Kondomautomaten als Tamponautomaten? Dringendes Bedürfnis, oder?“, heißt es lakonisch, ironisch im Text „FrauenSex&Gender“, der sich am Ende von Fabienne Hollweges interdisziplinären Buch „To LIVE heißt Leben und LIEBE heißt Love“befindet. Ein Werk, das sowohl thematisch, stilistisch als auch ästhetisch zu einem berührenden und immersiven Erlebnis wird.
Während die Kurzgeschichte „Ein freier Tag“– der Titel könnte kaum sarkastischer sein – den Tagesablauf einer Mutter schildert, verdeutlicht, wie viel Energie der Mensch in unbezahlte Care-Arbeit steckt, erzählen andere Texte von unerfüllten Wünschen und Sehnsüchten. An anderer Stelle wird wiederum das eigene Leben hinterfragt oder das klassische, veraltete Gesellschaftsbild der Familie und der Frau.
Noch andere Gedichte, Songs und Kurztexte prangern unmittelbar das immer noch bestehende Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen an – egal in welchem Lebensbereich. „Stichwort: Victim blaming, Stichwort: aufgeklärte Gesellschaft? Divers? Gelebter Feminismus?“, schreibt die Autorin und verweist damit auf die Heuchelei der Menschheit, die vorgibt, fortschrittlich und offen zu sein, in vielen trotzdem immer noch hinterherhinkt.
Ein Buch für alle
Vor allem Mädchen und Frauen dürften sich in den Zeilen von Fabienne Hollwege wiederfinden, sich mit ihren Aussagen – die mal direkt, mal wunderbar umschrieben daher kommen – identifizieren. Doch das Buch entpuppt sich als ein Werk, das jeden etwas angeht und keinesfalls als „Frauenliteratur“abgetan werden sollte. Überhaupt müsste der Begriff „Frauenliteratur“aus dem allgemeinen Sprachgebrauch gestrichen werden. Immerhin gibt es auch keine reine „Männerliteratur“, wie Nicole Seifert in ihrer 2021 erschienen Publikation „Frauen Literatur“belegt und auch Fabienne Hollwege bemerkt.
In „To LIVE heißt Leben und LIEBE heißt Love“lässt die Autorin ihre Leserschaft ganz nah an sich ran, wenn sie ihren Gedanken freien Lauf gibt und persönliche (Alltags)Erfahrungen schildert. Dabei gelingt ihr eine wunderbare Balance zwischen ironischen, humorvollen und ergreifenden Texten. Und das, ohne die Ernsthaftigkeit und den Tiefgang der Themen aus den Augen zu verlieren.
Unter die Sammlung der selbst geschriebenen Texte mischen sich Zitate von Autorinnen, wie Virginia Woolf oder Christa Wolf. Diese Frauen sind nicht nur Vorbilder, sondern auch Inspirationsquelle der Schauspielerin und Schriftstellerin. Zu den Frauen, die sie sehr beeinflusst haben, gehört auch Mascha Kaléko, wie Fabienne Hollwege preisgibt.
Doch das Buch beinhaltet eben nicht nur Schriftliches, sondern auch Zeichnungen, Illustrationen und (Foto)Collagen, die ganz eng mit den Texten zusammenhängen oder diesen zugrunde liegen. Mal ploppt ein simples Foto von einem Wäschekorb und Frauenfüßen davor auf, mal sieht man eine nackte Brust. Anderswo wird auf einer Doppelseite das Thema „Schwangerschaft und Geburt“mit persönlichen Fotos und Zeichnungen aufgriffen.
Versteckte Botschaften
Nicht nur in den Texten, sondern auch in den Bildern gibt es so einiges zu entdecken. Sprüche wie „Der Alltag fliegt mit dem Atlantik-Wind davon“oder Aussagen wie „Da blüht was“lassen sich in einigen der Collagen ausfindig machen. Und selbst diese kleinen, versteckten Botschaften strotzen nur so vor Aussagekraft, wenn man sie in den richtigen Kontext setzt und das Buch als übergreifendes Projekt versteht.
Überhaupt sind es in „To LIVE heißt Leben und LIEBE heißt Love“(das bei den éditions guy binsfeld, in Zusammenarbeit mit Maskénada, erschienen ist) oftmals die kleinen Verweise oder die Randbemerkungen, welche die Alltagssorgen von Frauen auf den Punkt bringen.
Fragmentarisch, gar elliptisch gestaltet sich die Zusammensetzung der unterschiedlichen Textund Kunstgattungen. Das Buch ist verspielt und ernst zugleich. Dabei präsentiert sich jede Seite anders – selbst die Schriftarten wechseln konstant.
Was zunächst nach einem kunterbunten Sammelsurium, einer Zusammenballung klingt, entpuppt sich als ein durchdachtes Konzept, bei dem im Endeffekt alles stimmt. Selbst wenn manche Textpassagen den Anschein haben, etwas flach zu sein, ist Fabienne Hollwege hier ein vielschichtiges Werk gelungen. Die künstlerische Leitung für das Projekt übernahm dabei Serge Tonnar.
Die Texte, die meist in recht einfachen Sätzen verfasst sind, verfügen stellenweise doch über sehr poetische Akzente. Zwar funktionieren die Gedichte, Songs und Erzählungen auch alleinstehend und unabhängig von den anderen Medien, allerdings entfaltet das Buch seine vollständige Wirkung erst in seinem Gesamtkonzept. Daher sollte auch jeder QR-Code gescannt und jeder Track der CD gehört werden.
Dass es die Stimme von Fabienne Hollwege braucht, damit die Texte eine tiefere Bedeutung erlangen, bewies die Autorin bei ihrer Buchvorstellung. In diesem Sinne dürfen sich ihre Fans auch auf eine musikalische Theaterperformance („Live, Love & Fragments“) freuen, die auf ihrem Buchprojekt basiert und in Esch/Alzette zu sehen sein wird.
„Live, Love & Fragments“wird am 21., 23., 24., 25. und 26. Februar 2023 im Escher Theater aufgeführt. Weitere Informationen auf:
www.theatre.esch.lu