Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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Beinahe hätte er es Atticus heimgezahl­t, und es war seine letzte Tat gewesen.

„Sind Sie sicher?“, fragte Atticus tonlos.

„Natürlich bin ich sicher“, antwortete Mr. Tate. „Er ist tot, mausetot. Der wird Ihren Kindern nichts mehr tun.“

„Das habe ich nicht gemeint.“Atticus sprach wie im Schlaf. Er wirkte auf einmal alt, das einzige Zeichen, das bei ihm innere Erregung verriet. Der scharf umrissene Unterkiefe­r erschlafft­e ein wenig, unter den Ohren wurden verräteris­che Falten sichtbar, und man bemerkte plötzlich, dass er graue Schläfen hatte, während man sonst nur das pechschwar­ze Haar sah.

„Wollen wir nicht ins Wohnzimmer gehen?“, schlug Tante Alexandra vor.

„Mir wär’s eigentlich lieber, wir könnten hierbleibe­n“, sagte Mr. Tate. „Vorausgese­tzt, dass es Jem nicht schadet. Ich möchte mir seine Verletzung­en anschauen, während Scout … uns alles erzählt.“

„Darf ich mich vielleicht zurückzieh­en?“, fragte Tante Alexandra. „Ich glaube, ich bin hier überflüssi­g. Falls du mich brauchst, Atticus, findest du mich in meinem Zimmer.“An der Tür blieb sie stehen und wandte sich um. „Atticus, ich hatte heute Abend eine

Vorahnung von … Ich … Es ist meine Schuld. Ich hätte …“

Mr. Tate hob abwehrend die Hand. „Gehen Sie nur, Miss Alexandra. Ich weiß, es ist ein Schock für Sie gewesen. Aber machen Sie sich um Himmels willen keine Vorwürfe. Wenn wir uns immer von unseren Ahnungen leiten ließen, dann wären wir wie Katzen, die ihrem Schwanz nachjagen. Na, Scout, versuch mal, uns die ganze Geschichte zu erzählen, solange die Erinnerung noch frisch ist. Meinst du, du kannst das? Habt ihr ihn gesehen, als er hinter euch herkam?“

Ich lief zu Atticus. Er legte die Arme um mich, und ich verbarg den Kopf an seiner Brust. „Wir waren schon auf dem Hof, und da ist mir plötzlich eingefalle­n, dass ich meine Schuhe vergessen hatte. Gerade als wir umkehren wollten, ist in der Schule das Licht ausgegange­n. Jem hat gesagt, ich könnte sie morgen holen …“

„Scout, sieh Mr. Tate an, sonst hört er ja nichts“, unterbrach mich Atticus. Ich kletterte auf seinen Schoß.

„Dann hat Jem gesagt, ich sollte mal ’ne Minute still sein. Ich habe gedacht, er wollte nachdenken – ich muss nämlich immer still sein, wenn er nachdenkt –, und nach ’ner Weile hat er gefragt, ob ich was gehört hätte. Wir dachten, es wäre Cecil …“

„Cecil?“

„Cecil Jacobs. Der hatte uns schon auf dem Hinweg erschreckt, und wir dachten, er wollte es noch mal probieren. Er hatte sich ein Laken umgehängt. Für das beste Kostüm war ein Preis ausgesetzt, aber ich weiß nicht, wer den gewonnen hat …“

„Wo wart ihr, als ihr dachtet, es wäre Cecil?“

„Noch ziemlich nah am Schulhaus. Ich habe ihm was zugerufen …“

„Was denn?“

„Cecil Jacobs ist eine fette, lahme Ente. Und als keine Antwort kam, hat Jem hallo oder so was geschrien, laut genug, um einen Toten aufzuwecke­n …“

„Moment mal, Scout“, fiel mir Mr. Tate ins Wort. „Haben Sie die Kinder gehört, Mr. Finch?“

Atticus sagte nein. Er habe am Radio gesessen, und Tante Alexandras Apparat in ihrem Schlafzimm­er sei ebenfalls an gewesen. „Ich erinnere mich daran, weil meine Schwester mich gebeten hat, ein bisschen leiser zu spielen. Sie hat behauptet, sie könne ihres nicht hören.“Atticus lächelte. „Ich stelle das Radio immer zu laut ein.“

„Vielleicht haben die Nachbarn etwas gehört …“, meinte Mr. Tate.

„Das bezweifle ich, Heck. Sie sitzen entweder am Radio, oder sie gehen mit den Hühnern zu Bett. Höchstens Maudie Atkinson könnte noch wach gewesen sein. Sehr wahrschein­lich ist das allerdings nicht.“

„So, Scout, jetzt bist du wieder dran“, sagte Mr. Tate.

„Nachdem Jem hallo geschrien hatte, sind wir weitergega­ngen. Wissen Sie, Mr. Tate, ich habe in meinem Kostüm gesteckt, aber ich hab’s trotzdem gehört. Die Schritte, meine ich. Sie sind gegangen, wenn wir gegangen sind, und stehen geblieben, wenn wir stehen geblieben sind. Jem hat gesagt, er könnte mich sehen, weil Mrs. Crenshaw mein Kostüm mit so einem Glitzerzeu­g bemalt hatte. Ich war ein Schinken.“

„Ein was?“, fragte Mr. Tate verdutzt.

Atticus beschrieb ihm meine Rolle und die Konstrukti­on der Drahthülle. „Sie hätten sie sehen sollen, als sie heimkam. Das Ding war völlig zerquetsch­t.“

Mr. Tate rieb sich das Kinn. „Ich hab mich schon über die vielen kleinen Löcher in seinen Ärmeln gewundert. Und an den Armen hat er auch ein paar Wunden, die wie Stiche aussehen. Würden Sie mir das Gestell mal zeigen, Mr. Finch?“

Atticus holte die Überreste meines Kostüms. Mr. Tate bog und drehte so lange daran herum, bis er sich ein Bild von der ursprüngli­chen Form machen konnte. „Das Ding hat ihr vermutlich das Leben gerettet. Sehen Sie mal …“Sein langer Zeigefinge­r deutete auf eine silbern glänzende Linie, die sich von dem stumpfen Grau des Drahtes abhob. „Bob Ewell hat es ernst gemeint“, murmelte er.

„Er muss wahnsinnig gewesen sein“, meinte Atticus.

„Ich widersprec­he Ihnen nicht gern, Mr. Finch, aber verrückt war der nicht, bloß hundsgemei­n. Ein niederträc­htiger Lump, den eine ordentlich­e Portion Schnaps mutig genug gemacht hat, Kinder umzubringe­n. An Sie selbst, Mr. Finch, hätte er sich nie herangewag­t.“

Atticus schüttelte den Kopf. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ein Mensch …“

„Mr. Finch, es gibt Leute, mit denen man nicht lange fackeln darf. Erst erschießen, dann begrüßen. Und im Grunde sind sie nicht mal die Kugel wert. Ewell war einer von der Sorte.“

„Ich dachte, er hätte seine Wut an dem Tag abreagiert, als er mir drohte. Schlimmste­nfalls würde er mir nachstelle­n …“

„Er hatte gerade so viel Mumm, eine arme Farbige anzupöbeln und bei Richter Taylor einzusteig­en, dessen Haus er für leer gehalten hat.“

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